MASTER NEGATIVE NO 92-80621-7 MICROFILMED 1992 COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES/NEW YORK as part of the "Foundations of Western Civilization Preservation Project" Funded by the NATIONAL ENDOWMENT FOR THE HUMANITIES Reproductions may not be made without permission from Columbia University Library COPYRIGHT STATEMENT The copyright law of the United States -- Title 17, United States Code - concerns the making of photocopies or other reproductions of copyrighted material... Columbia University Library reserves the right to refuse to accept a copy order if, in its judgement, fulfillment of the order would involve violation of the copyright law. AUTHOR: GRANT, ALEXANDER, SIR TITLE: XENOPHON PLACE: EDINBURGH DA TE : 1871 Master Negative # COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES PRESERVATION DEPARTMENT Master Negative # .^3rl?^?Lil BIBLIOGRAPHIC MICROiFORM TARGET Original Material as Filmed - Existing Bibliographic Record 88XB G767 88H46 BSl L Restrictions on Use: r Grant, Sir Alexander, 6ar^., 182G-1884. ' Xenophon, by Sir Alexander Grant ... Philad e lph i a, J . D. Lippin€ot(^oompftny^^l8?8^, Edinburgh, Blackwood, 1871. 3 p. 1., 180 p. 17i*». {Half-title: Ancient classlct for English readers, edited by the Rev. W. Lucas Ck)llins. t. 8) Another copy, reprint 1885. Bound with another work. I. Title. Chicago. Public library for Library of Congress A 10-2518 laSSfli TECHNICAL MICROFORM DATA REDUCTION RATIO FILM SIZE:„ IMAGE PLACEMENT: lA CuA) PR IW DATE FILMED: ' v//^;UNITIALS ^^„ ~ ^S. INC WOODBRIDGE. CT :__j.[i. :... HLMEDBY: RESEARCH PUBLltA^ .M>*-UP ^ Q 0U^'Kfi-^''^JLM^ ; 0^^ t>.40JWiP AJ Q 0(^/.#vS-AM.^.#r i — 28 — liefen, durch eben diese audi im Horer erregt werden; so- bald eine wesentliche Differenz zwischen den Vorstelliingen beider Personen stattlindet, ist das von einem zum anderen gehende Wort entweder mifsverstanden oder unverstanden. Ein derartig direktes Nachbilden findet indes nur statt und geniigt nur, wo es sich um theoretische Denkinhalte handelt, bei denen es nicht wesentlich ist, dafs sie als Vorstellungen gerade dieses Individuums ihren Ausgangspunkt nehmen, sondern die vielmehr saehliche Inhalte in logischer Form jedem gleichmafsig darbieten. Bei objektiven Erkenntnissen verhalte ich mieh zum Gegenstande des Erkennens genau so wie derjenige, dessen Vorstellungen daruber ich „ver- stehe", er vermittelt mir nur deren Inhalt und wird nachher sozusagen wieder ausgeschaltet — der Inhalt besteht furder- hin in meinem Denken parallel mit dem seinigen und ohne von dem Ursprung aus diesem letzteren eine Umbiegung oder Modifizierung zuriickzubehalten. In diesem Fall trifft der Ausdruck, dafs ich den Sprechenden verstehe, den Sachverhalt nicht voUig : ich verstehe eigentlich nicht den Sprechenden, sondern das Gesprochene. Dies andert sich sogleich, sobald jener zu seiner Aufserung durch eine personliche Absicht, durch Voreingenommenheit oder Arger, durch Angstlichkeit oder Spottlust getrieben ist. Indem wir diese Motive der Aufserung erkennen, haben wir sie noch in einem ganz anderen Sinne als durch das Begreifen ihres Sachgehaltes „verstanden" : jetzt erst bezieht dieses sich nicht nur auf das Gesprochene, sondern auf den Sprechenden. Diese Art des Verstehens aber und nicht die erstere kommt historischen Personlichkeiten gegeniiber in Frage. Und bei ihr bedeutet das „ Nachbilden" ofFenbar etwas anderes als jenes, namlich keineswegs ein unver- andertes Wiederholen des Bewufstseinsinhaltes der Personen. Wir behaupten doch jede Art und jeden Grad von Liebe und Hafs, Mut und Verzweiflung, Wollen und Fiihlen zu verstehen, ohne dafs die Aufserungen, auf die hin das Bild solcher Affekte in uns entsteht, uns in die gleiche Befangenheit in ihnen versetzten. Dennoch setzt ersichtlich derjenige Seelenprozefs, den wir das Begreifen ihrer nennen, eine psychologische Umformung, eine Verdichtung oder auch abgeblafste Spiegelung ihrer voraus *, irgendwie mufs in ihm T f T > -- 29 — ihr Inhalt enthalten sein. Wenn es die Aufgabe der Ge- schichte ist, nicht nur Erkanntes zu erkennen, sondern auch Gewolltes und Gefuhltes, so ist diese Aufgabe nur losbar, indem in irgendeinem Modus psychischer Umsetzung das GewoUte mitgewollt, das Gefiihlte mitgefuhlt wird. Denn sonst wurde nicht ihr irgendwann vorhergegangenes reales Empfundensein die Bedingung bilden, unter der allein das eintritt, was wir ihr Verstandiiis nennen. Wer nie ge- liebt hat, wird den Liebenden nie verstehen, der Choleriker nie den Phlegmatiker , der Schwachling nie den Helden, aber auch der Held nicht den Schwachling ; und umgekehrt spricht unser Verstandnis der Bewegungen, Mienen und Handlungen Anderer um so leichter an, je ofter wir selbst die Affekte durchempfunden haben, fur die jene das Symbol sind, und zwar in demselben Mafse leichter oder schwerer, in dem unsere augenblickliche innere Lage zu ahnlichen oder zu abliegenden Empiindungen disponiert und also die psychologische Reproduktion erleichtert oder erschwert. In irgend einer Umbildung ist also doch die Wiederholung der im Anderen vorgehenden Bewufstseinsakte mit dem Ver- standnis seiner verbunden und fur dasselbe unentbehrlich. Das letzte Motiv, das die Art dieser Umbildung be- stimmt, ist wohl, dafs die von dem Erkennenden irgendwie erlebten Gedanken, Gefuhle, Strebungen, jetzt eben nicht als seine eigenen, sondern als die eines anderen, eines Nicht- Ich vorgestellt werden *, dafs die in dem historischen wie in jedem psychologischen Verstandnis sich erzeugenden Be- wufstseinsgebilde von ihrer Wurzel im Ich gelost und einem anderen Ich aufgepfropft werden. Dies ist eine eigentum- liche Komplikation der Tatsache, dafs uns auch inbezug auf menschliches Sein unsere Erkenntnisobjekte nicht in ihrem An-Sich, sondern als Erscheinungen gegeben sind. Die erkenntnistheoretischen Folgen hiervon hat man freilich in Abrede gestellt. In ganz anderer Weise, ist gesagt worden, sei uns die Geschichte zuganglich, wie die Natur. Der Unter- schied zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich habe, wo beides Seelen waren, einen vollig anderen Sinn als sonst; denn beide seien nur numerisch, nicht generell verschieden, und wenn kein Geist ins Innere der Natur dringen konne, so doch in das eines anderen Geistes, den er vollig adaquat — 30 — in sich abzuspiegeln vermoge. Auf einera so leichten Pfeiler lafst sich indes noch keine Brucke uber die Kluft zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich schlagen. Die generelle Gleich- heit beider hebt zunachst die Notwendigkeit davon nicht auf, dafs allerhand Veraufserlichungen , Umsetzungen und Symbolisierungen zwischen ihnen vermitteln. Eine eigent- liche Abspiegelung, ein unmittelbares , aus der Wesens- gleichheit folgendes Verstandnis ware Gedankenlesen und Telepathie, oder setzte eine prastabilierte Harmonie voraus. Vielmehr, das Erkennen selbst eines geistigen Vorganges ist doch auch seinerseits ein Prozefs, der nur angeregt werden kann und schliefslich von dem Subjekt selbst voll- zogen werden mufs. Allein dies wurde schliefslich die sachliche Parallelitat nur aus einer direkten in eine in- direkte verwandeln; schliefslich konnte sich trotz aller notigen Umwege doch ein Seelenvorgang so genau in einer anderen Seele abspiegeln, wie die Worte, die dem Tele- graph en appa rat anvertraut werden, sich an dem der anderen Station reproduzieren, wenngieich dasjenige, was dazwischen liegt und sie tragt, ihnen vollig heterogene Vorgange sind. Allein die sehr viel tiefer liegende Schwierigkeit ist die, dafs die so produzierten Vorgauge in mir doch zugleich nicht die meinigen sind, dafs ich sie als historische, obgleich ich sie vorstelle und sie also meine Vorstellungen sind, als die eines anderen denke. Es geniigt auch nicht, wenn wir einen anderen erkennen woUen, dafs wir seine Seelenvorgange in uns selbst nach- bilden und uns dazu sagen: aber nicht ich, sondern jener emptindet so! Denn erstens empiinde ich doch nach der Voraussetzung tatsachlich so, und jener Zusatz kann auch nicht nachtraglich zu dem Inhalt gemacht werden, wo- bei dann beides gegeneinander isoliert bliebe, sondern er mufs jenen Inhalt durchdringen , ihn unmittelbar als sein Exponent begleiten. Dieses Emplinden dessen, was ich doch eigentlich nicht empfinde, dieses Nachbilden einer Subjektivitat, das doch nur wieder in einer Subjektivitat moglich ist, die aber zugleich jener objektiv gegeniiber- steht — das ist das Ratsel des historischen Erkennens, dessen Verstandnis man bisher noch kaum unaeren logischen und psychologischen Kategorien abzugewinnen versucht hat. — 31 — Gewifs ist in diesem Erkennen beides enthalten : das eigene Vollziehen des fraglichen Aktes und das Bewufstsein, dafs er an Anderen vorgegangen ist; allein dies ist nur eine nachtragliche Zerlegung in Elemente, von deren Besonderung der historische Erkenntnisprozefs selbst kein Bewufstsein aufweist. Es handelt sich hier doch nicht um ein nach- tragliches Zusaramenbringen von Bestandteilen , die vorher getrennt existieren, so wenig wie in der Anschauung der aufseren Welt dieSinnesempfindung und die Raumanschauung gesondert vorhanden sind und sich dann zu jener zusamraen- schliefsen. Die Projizierung eines Vorstellens und Fuhlens auf die historische Personlichkeit ist ein einheitlicher Akt, dessen Vorbedingung allerdings ist, dafs ich die fraglichen psychischen Vorgange in meinem subjektiven Leben er- fahren habe. Allein indem sie jetzt als Vorstellungen eines anderen reproduziert werden, erfahren sie eine psychische Umformung, die sie von dem eigenen subjektiven Erlebnis der erkennenden Personlichkeit ebenso abhebt, wie sie von dem der erkannten Personlichkeit abgehoben sind. Wenn also diese beiden letzteren selbst generell ubereinstimmen, wenn auch Liebe und Hafs, Denken und Wollen, Lust und Schmerz als personliche Ereignisse in der Seele des Er- kennenden ebendiesen in der Seele des Erkannten genau wesensgleich waren, so bildet doch nicht dieses unmittelbar Gleiche die historische Erkenntnis, sondern jener durch die Projizierung auf einen Anderen umgeformte Vorstellungs- prozefs. Die seelische Nachbildung, die die aufseren Ereignisse psychologisch legitimiert, erfolgt innerhalb einer Kategorie, gleichsam in ein em Aggregatzustand des Vorstellens, dem die Erkenntnistheorie noch nicht die genligende Aufmerksamkeit geschenkt hat. Gewisse Vorstellungs- verbindungen namlich werden in uns von dem Gefiihl be- gleitet, dafs nicht nur die Zufalligkeit und Momentaneitat des subjektiven Seelenlebens sie vollzieht, sondern dafs sie typische Gultigkeit haben, dafs die eine Vorstellung von sich aus Anweisung auf ihr Verbundensein mit der anderen gibt, unabhangig von der augenblicklichen Seelenlage, die diese innere Relation der Vorstellungen im Subjekte ver- wirklicht. Damit ist durchaus nicht die Wahrheitsbedeutung 'VA AJ^AX.^y-JU«J^JLJ i i / — 32 — dieser Vorstellungen gemeint, nicht, dafs ihr Inhalt objektiv- gultig ist, gleichviel ob wir ihn vorstellen oder nicht. Um diese tibersubjektive Notwendigkeit , die sich jenseits der psychologischen Uberhaupt halt, handelt es sich hier nicht, sondern um eine Uberpersonalitat der psychologischen Zusammenhange selbst, die nur jenseits ihrer Realisierung in einem einzelnen Bewufstsein steht. Es gibt eben Falle, in denen das rein seeliscLe Verbundensein von Vorstellungen denselben Normcharakter, dieselbe innerlich notwendige und deshalb ubersingulare Gultigkeit besitzt, wie es bei den auf Erkenntnis gerichteten Vorstellungen der logische, sachliche Zusammenhang ihrer Inhalte aufvveist. Mit der sogenannten psychologischen Gesetzmafsigkeit ist dies freilich verwandt, aber nur im zweiten Grade und ohne an den Fragwlirdig- keiten teilzuhaben, die den Begriff des psychologischen Ge- setzes in dem jetzigen Wissensstadium umgeben. Die Allgemeingilltigkeit ist hier vielmehr eine psychologische Qualitat der Vorstellungsweisen selbst, unmittelbar als ein mit ihnen wie ein Oberton mitschwebendes Gefllhl gegeben; sie kann deshalb bei den einzelnen Individuen ganz ver- schiedene Vorstellungen begleiten, auch fiir das einzelne Individuum diese gelegentlich wechseln, aber da sie sozu- sagen nur der Ausdruck fiir einen inneren Charakterzug der Bewufstseinsakte ist, so entzieht sie sich ebenso der objektiven Bestatigung wie Widerlegung. Diese Art der psychologischen Notwendigkeit begleitet die Vorstellungen, mit denen wir geschichtliche Personlich- keiten rekonstruieren oder vielmehr, sie sind eben dann rekonstruiert, wenn das Bild ihrer seelischen Zustande und Bewegungen diese Begleitung erworben hat. Dabei konnen sie ihrem Inhalt nach vollig individuell und einzig sein. Wer auf die aufseren Handlungen von Themistokles oder Moritz von Sachsen hin sich ein Bild ihres Charakters formt, oder die innere Reihe der Impulse, Vorstellungen, GefUhle herstellt, durch die jene zusammengehalten und verstandlich werden — der vollzieht diese psychologische Konstruktion mit einem Gefiihl von Notwendigkeit, er unterscheidet sie, obgleich sie jetzt nur in ihm vorgehen und von keiner sachlichen Gesetzmafsigkeit legitimiert werden, sehr genau von anderen Vorstellungsverbindungen, — 33 — die auch als seelische Tatsache in ihm auftreten, die er aber sozusagen niemandem imputieren kann. Dies Geftihl der psychologischen Wahrscheinlichkeit mag sich erst nach mannigfachen Abwagungen einstellen, es mag sich auch nicht immer fiir eine der moglichen seelischen Konstella- tionen mit voller Sicherheit entscheiden; aber soweit es eben besteht, bildet es das Kriterium, ob ein innerlich auf- wachsendes seelisches Gebilde auch objektiv gelten soil, d. h. ob wir es ihm zusprechen, die psychische Lage eines dritten darzustellen. Zu diesem letzteren Resultat fiihren an sich noch nicht Erfahrungen, Erwagungen, psychologische Regelmafsigkeiten ; solche vielmehr bilden nur eine Vorstufe, auf die hin jenes unmittelbar iiberzeugende Gefiihl der seelischen Lebenswahrheit eintritt, wie wir es auch gegen- iiber dem Gedicht oder dem Portrat haben, ohne dafs doch auch diese ihre Uberzeugungskraft theoretisch aus- driickbaren Erkenntnissen verdankten. Diese mogen vor- handen sein, sie mogen die Basis auch jenes Gefiihls bilden: ersetzen konnen sie es nicht, es bleibt immer ein un- erzwingbares, qualitativ eigenartiges Gebilde, gleichsam der Kristallisationspunkt, an dem die einzelnen psychischen Elemente zusammenschiefsen und so, durch iiberzeugend nachgefiihlte Krafte untereinander verbunden, die Einheit einer Personlichkeit ergeben. Die Farbung derselben kann, wie gesagt, vollig unvergleichlich sein. Wenn wir so kom- plizierte und widerspruchsvolle Naturen wie Themistokles oder Moritz von Sachsen zu verstehen meinen, so denken wir doch nicht ihre einzelnen Ziige und ein mechanisches Zusammen dieser; sondern wir fiihlen sie in ihrem funk- tionellen Verbundensein zur Einheit der Person. Diese Einheit hat, so heterogen ihre Elemente logisch erscheinen mogen, eine Festigkeit, die oft einem scheinbar ahnlichen Nebeneinander von seelischen Elementen fehlt und hier auf einmal eine, aus diesen einzelnen nicht deduzierbare Not- wendigkeit gewinnt. Diese ist nicht aus einem dariiber stehenden Gesetze abgeleitet, sondern etwa der Einheit ver- gleichbar, die Lionardo in dem seelischen Reichtum der Gioconda erblickt, oder zu der Goethe die polare Spannung unserer Gefiihlsmoglichkeiten im ,,Gesang der Geister iiber den Wassern" zusammengefafst hat. Si mm el, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 3 — 34 — Diese Konstruierbarkeit psychischer Zusammenhange, die von dem unmittelbaren Gefiihl der Bundigkeit begleitet wird und damit die einzige Moglichkeit bietet, das von Seelen getragene historische Geschehen zu verstehen — bedeutet eine vollig eigenartige Synthese der Kategorie des Allgemeinen und Notwendigen mit der des schlechthin In- dividuellen ; oder vielmehr^ genau gesprochen, steht sie jenseits dieses Gegensatzes, der bisher jeden Erkenntnisweg vor ein kompromifsloses Entweder-Oder stellte. Die charakte- ristische Verbindung von Impulsen, Stimmungen, Vor- stellungen, die das Erkenntnisbild einer historischen Per- sonlichkeit ausmacht, wlirden wir nicPit anerkennen, auf sie nicht projizieren konnen , wenn diese Elemente nicht eine auch ohne Rucksicht auf diese historische Verwirklichung verstandliche, an sich plausible Reihe und Einheit bildeten. Gewifs koramt sie so nur ein einziges Mai vor; allein auch dieses eine Mai wurde sie — als verstandliche — nicht vor- kommen konnen, wenn sie nicht einen zeitlos, d. h. hier, aus der psychologischen Bedeutung und RoUe der Elemente begreiflichen und nachzuformenden Zusammenhang bildete. Es ist nicht der Sachgehalt des Psychologischen, sondern das Psychologische als Sachgehalt selbst, was hier, sozusagen nach der eigenen Logik der Seelenvorgange, die gultige, als notwendig gefiihlte Zusammenordnung bildet, und so erst die Darstellung jener Einzelerscheinung legitimiert, ohne freilich aufserhalb dieser noch ein zweites Beispiel innerhalb der Realitat zu besitzen. Jener Dualismus des Allgemeinen und des Individuellen berlihrt also die hier aufkommende Erkenntniskategorie garnicht. Die Nachbildbarkeit und der von aller Einzelverwirklichung in seiner Gliltigkeit un- abhangige Zusammenhang der psychischen Werte geben ihr die Bedeutung eines schlechthin Allgemein-Gesetzlichen, und dennoch ist sie kein solches, sondern gleich von vornherein ist jener Zusammenhang als ein historisch einmaliger gedacht. Dies aber nicht in dem Sinne, in dem auch jede physische Erscheinung genau genommen eine einmalige, in absoluter Realitat niemals wiederholte ist; denn diese Einzigkeit ist hier doch nur die Uniibersehbarkeit der in ihr zusammen- stromenden allgemeinen Gesetzlichkeiten. Vielmehr ist dort das Ganze aus einem Einzigkeitspunkte heraus entwickelt ' — 35 - und untersteht dem Begriff der historischen Person- lie hkeit, d. h. einer solchen, die durch ihre raumliche und zeitliche Bestimmtheit , ihre BeschafFenheit , ihre ge- schichtlichen Folgen wie durch ein Koordinatensystem in eine absolute Einmaligkeit festgelegt ist. Der innere Grund dieses letzteren Unterschiedes liegt in der Einheit der personlichen Seele. Eine noch so unwiederholte Er- scheinung, zusammengebaut aus Elementen, deren jedes fur sich durch je ein allgemeines Gesetz bestimmt ist, erscheint uns nicht als ein schlechthin individuelles Ge- bilde; denn ihre Einzigkeit liegt sozusagen nicht in ihr, sondern nur in der Form, zu der jene Elemente sich aufser- lich zusammengefunden haben. Erst wenn ein einheit- liches Gebilde einzig ist, d. h. wo die Einzigkeit nicht ein formales und durch den Vergleich mit anderem zugewachsenes Akzidenz, sondern eine spezifische, innere, vom Zentrum des Ganzen getragene Qualitat ist, — erst da entsteht das Bediirfnis, der Ratselhaftigkeit und Unzugangigkeit der Individualitat gegeniiber diejenige Beziehung zum Ganzen, Begreiflichkeit, Einrangierung , zu gewinnen, die jenen anderen Erscheinungen die Reduzierung auf die all- gemeine Gesetzlichkeit der Elemente leistet. Und dies eben scheint nur durch den psychisch-biindigen Zusammen- hang der Personlichkeitszuge — wie die liberzeugende Nach- fiihlbarkeit sie gewahrleistet — gegeben. Denn so gewinnt dieser Zusammenhang, dieses Personlichkeitsbild, eine so- zusagen anonyme Giiltigkeit, eine innere, nicht an den Namen der Person gebundene, die dennoch von vornherein das Cachet der historischen Individualitat, d. h. der einmaligen Wirklichkeit tragt. Diese Kategorie des objektiven, aber nur durch sub- jektives Nachfuhlen konstruierbaren Zusammenhanges sub- jektiv-personlicher Seelenelemente steht, wie iiber dem Gegensatz des Allgemeinen und des Individuellen, so auch iiber dem von Ursache und Grund. Die reale Verursachung, die die psychische Erscheinung B an die andere A kniipft, ist uns entweder iiberhaupt nicht erkennbar oder nur in der Form eines allgemeinen psychologischen Gesetzes. Im er- kenntnistheoretischen Interesse trennen wir den Inhalt, die begriffliche Bedeutung seelischer Vorgange von diesen Vor- - 36 — gangen selbst als einem blofsen dynamischen Geschehen. Nur innerhalb dieses letzteren herrschen unmittelbar die nattirlichen Energien und ihre kausale Notwendigkeit. Der In halt, als der die Prozesse sich unserem Bewufstsein kundgeben, ist gleichsam nur die Erseheinung derselben, das Zeiehen, an dem wir den Verlauf des Prozesses erkennen, und das wahrscheinlich bei ganz verschiedenen realen Grund- vorgangen sich als das Gleiche ergeben kann. Die Aufgabe der Psychologie ist, diese Dynamik der seelisehen Ereignisse, fur deren Erkenntnis unmittelbar nur ein Symbol: ihr logisch ausdriickbarer Inhalt, zur Verfugung steht, zu ent- hiillen, bis sie, in ihrer idealen VoUendung, mit Hilfe all- gemeiner Gesetze die realen Konsequenzen aus jeder ge- gebenen seelisehen Situation entwickeln konnte. Von dieser Herleitung der Vorstellungen aus der Ursachlichkeit psycho-mechanischen Geschehens unterscheidet sich aufs seharfste die aus G run den, die auf den logisehen Be- ziehungen ihrer Inhalte beruht. Wir begreifen, dafs sich auf gegebene Pramissen hin der Schlufssatz einstellt, bei gewoUtem Zwecke die Bestrebung auf die sachlich erforder- lichen Mittel, bei gewissen organischen Trieben das Gefuhls- interesse fur ein Subjekt, das ihnen genug tue. Hier fragen wir nun nicht nach dera Prozesse, der das eine Glied trlige, und aus dem mit naturgesetzlicher Kausalitat das nachste, der reale Trager des nachsten Inhaltes, hervorginge. Wir geben vielmehr zu, dafs diese Konsequenz nicht psychologisch notwendig einzutreten braucht, dafs der naturlich-tatsachliche Verlauf des inneren Geschehens vielmehr auch zu einer anderen fuhren kann. Wenn sie aber eintritt, so verstehen wir dies aus der logisehen Beziehung der Inhalte, die gleichsam zeitlos und mit einer ganz anderen als der natur- ^gesetzlichen Notwendigkeit sich an dem blofsen seelisehen Sich-Ereignen abrollen. Dafs jemand aus ihm bewufsten Pramissen einen gewissen Schlufs zieht, wurde eine voll- endete Psychologie aus den vorhandenen seelisehen und dynamischen Verhaltnissen seines seelisehen Organs durch die Anwendung allgem einer Gesetze der psychischen Be- wegungen verstehen; dafs dieser Schlufs aber ein verntinf- tiger, der Sache, nicht nur dem tatsachlichen seelisehen Ereignis nach notwendiger ist — das begreifen wir aus den a i ^ k t — 37 - begrifflichen Verhaltnissen der Inhalte, aus dem logisehen Zwange der Pramissen, diesen und keinen anderen Schlufs aus sich zu entlassen. Die nachbildende Konstruktion des historischen seelisehen Ereignisses nun, ein in sich offenbar ganz einheitliches Geschehen, hat zu diesen beiden Formen des Begreifens Gleichheit und Gegensatz. Sie hat den gegen alles Rationale und Logische gleichgultigen Inhalt der einen. Denn das blofs Psychologische , das Naturlich- Kausale hat seinem begrifflichen Inhalte nach mit der vernunftmafsig- verstandlichen Verkniipfung nicht das geringste zu tun. Es realisiert mit derselben Notwendigkeit und in dynamisch ganz gleichartigen Prozessen das Vernunftigste wie das Widersinnigste , die Gedankenspriinge des Narren wie die ruhige Folgerichtigkeit des juristischen oder mathematischen Denkens. Die historisch- seelisehen Tatsachen zeigen diese — vom Standpunkt der logisehen Notwendigkeit — rein zu- falligen Verknlipfungen ; sie sind blofs wirkliche psycho- logische Prozesse, die mit den rationalen Beziehungen zwischen den Bedeutungen ihrer Inhalte real und er- kenntnistheoretisch streng auseinanderzuhalten sind. Aber gerade sie sollen nun ein Verstandnis finden, analog dem der rationalen Verknupfungen. Wie wir seelische Vorgange verstehen, wenn ihre Inhalte sich logisch entwickeln, wenn der seelische Prozeis an den nur in diesen Inhalten gelegenen Notwendigkeiten entlang geht — so zieht sich diese an den Inhalt, statt an die dynamische Naturgesetzlichkeit geknlipfte Begreiflichkeit hier in eine Einmaligkeit zusammen. Es fehlt die aus Naturgesetzen begriffene Notwendig- keit des psychologischen Geschehens; es fehlt ebenso die logische Notwendigkeit, mit der sich die Inhalte des letzteren allgemeingultig verkniipfen. Und doch soil hier etwas, was als blofs historische Tatsachlichkeit, als kausale Geschehensreihe auftritt, oft vollig irrational, aus blinden Trieben geboren, aller Verkniipfung nach Sinn undBedeutung entbehrend, — das soil dennoch, wenn auch nur fur den je- weiligen Fall, seinem Inhalte nach als etwas notwendig Zu- sammengehoriges erkannt werden; die Einheit, die einen seelisehen Inhalt aus dem anderen logisch entwickelt, an den anderen kniipft, soil nun doch mit ahnlich zusammenhal ten- der Kraft an einem gegen alles Logische als solches gleich- — 38 Hi giiltigen Inhalt gefuhlt werden, — so sicher, dafs der ganze Zusammenhang auf ein Minimum von Gegebenheiten bin konstruiert wird! Was dieZuge eines historischen diarakters^ die Vorstellungskomplexe hinter einem historischen Tun zu einer verstandlichen Einheit zusammenbindet, ist erkenntnis- theoretisch weder Ursaehe noch Grund, weder das reale Gesetz des Geschehens noch das ideale des Inhalts, sondern ein ganz eigenes Drittes, des Sinnes: dafs die rein tatsach- lichen Elemente durch ihre individuelle Farbung und Lagerung eine nicht gesetzh'ch festzulegende , sondern nur nachzufuhlende Beziehung und Einheit erhalten ; so dafs jedes mit dem anderen seinem Inhalte nach, aber eben nur soweit er individuell genau so bestimmt ist, in der Weise zusammenhangt, wie begrifflich allgemeine Inhalte ver- moge der Logik zusammenhangen. Wir schliefsen inner- halb der historischen Bilder von Art und Grad des einen seeb'schen Elementes auf Art und Grad des anderen — aber nicht im Syllogismus, der auf Allgemeingiiltiges ausgeht^ sondern in einer Synthesis der Phantasie, die dem schlecht- hin Individuellen gegenliber den Geltungswert des Rationalen auf die Zufalb'gkeit des blofs Geschehenden zu iibertragen Macht und Recht hat. Vielleicht lost sich hiermit das Ratsel, wie eine sub- jektiv geformte Seelenverfassung doch eo ipso als die eines anderen vorgestellt werden kann. Das Vermittelnde ist die besondere Art von uberpersonlicher Gultigkeit des psychischen Bildes nach der Dynamik und Verknlipfungsart seiner Ele- mente, einer Gultigkeit, die den Wert der AUgemeinheit hat, ohne doch begriffliche AUgemeinheit zu sein. Indem die im Betrachter sich bildenden Reihen von Vorstellungen und in Vorstellungsform anklingenden Gefuhlen und Strebungen von dem Gefuhl jener Giiltigkeit wie von einem qualitativen Lokalzeichen begleitet werden, erstrecken sie sich iiber ihn selbst hinaus, aber nicht auf jede beliebige Existenz, wie im allgemeinen Gesetz, sondern auf die eine psychische Einheit, deren historische Einzigkeit zu den inneren Bestimmungen jenes Zusammenhanges gehort. Die Schwierigkeit der historischen Projektion: dafs ich den nachgebildeten und nur subjektiv vorhandenen Seelen- vorgang gleichsam aus mir entfernen und auf die historische — 39 — l i — 97 - Neben der graduellen Bedeutung, die historische Ge- setze mit Rlicksicht darauf haben konnen, dafs Naturgesetze nur fur einfache Elemente gelten konnen, steht nun, wie oben angedeutet, noch ein zweiter moglicher Wert ihrer. Ich erinnere daran, dafs wir von keinera vorliegenden Gesetz wissen konnen, ob es wirklich jene absolute Geltung hat, die es als Gesetz von einer blofsen Tatsachenfolge unterscheidet ; worauf die praktische Kontinuitat der me- thodisch unbedingt geschiedenen Naturgesetze und histo- rischen Gesetze zu beruhen schien. Allein diese Kontinuitat lauft nur in einer Richtung: vielleicht ist alles, was uns heute als Gesetz erscheint, nur zufallige Kombination der tiefer liegenden wirklichen Gesetzlichkeiten ; die um- gekehrte Moglichkeit aber gilt fur viele Erscheinungen mit Sicherheit nicht. Die geschichtlichen Erscheinungen sind jedenfalls Resultate sehr vieler zusammentrefFender Be- dingungen, und deshalb keinesfalls aus je einem Natur- gesetz herzuleiten. Freilich miissen wir die einfachste Be- wegungsform, zu der die Analyse bis zu dem gegebenen Augenblick gedrungen ist, als den realen Grundtypus der Bewegungen uberhaupt und ihr Gesetz als den Ausdruck der wirkenden Grundkraft ansehen, wiihrend wir zugleich es ftir moglich halten miissen, dafs auch dieses Einfachste einmal zu einer blofsen Erscheinung tiefer liegender Krafte wird, welche erst ihrerseits die zulangliche Erklarung der Folgeerscheinung abgaben. Allein zwischen den Gesetzen, die dieser Moglichkeit als blofser Moglichkeit unterliegen, und den historischen liegt ein fast unlibersehbarer Weg. Und wenn wir etwa auch prinzipiell zugaben, dafs das eigentliche Erfolgen und seine Kraft uns verborgen ist und wir auf die Beobachtung des blofsen Folgens angewiesen sind, so bleibt doch der empirische Unterschied zwischen der kausalen und der blofs zeitlichen Beziehung flir die Zwecke unseres Erkennens bestehen. Mag die Grenze zwischen beiden eine fliefsende sein ; jedenfalls mufs sie vor dem kompliziertesten uberhaupt beobachteten Geschehen liegen; und dieses eben ist die Menschengeschichte. Wahrend damit nun die historischen Gesetze in letzter Instanz verurteilt scheinen, eroffnet sich ein vollig anderer Standpunkt ihnen gegeniiber, sobald wir, eine oben ein- Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. ^

arts zu ihren indivi- duellen Ursachen, sondern aufwarts zu Einheiten, die das Erkennen aus der einerseits kontinuierlicheren , andrerseits zersplitterteren Wirklichkeit herausschneidet — wie es etwa zwei Linien als ein Parallelenpaar bezeichnet, ohne dafs in die Formel oder die Genesis der einen der Umstand irgend- wie eintrate, dafs sie einer danebenstehenden parallel ist^). ^) Es ist hier zu bemerken — was gleich im Texte seine all- gemeine Deutung findet — , dafs diese gleichsam an den Oberflachen — 106 — der geschichtlichen Erscheinungen hergestellten Zusammenhange mit den tiefer greifenden, auf die kausale Genesis gehenden in der Praxis kontinuierlich verbunden sind. Der Parallelismns der Einzelreihen, von denen jede in sich die zureichenden Ursachen ihres Verlaufes einschliefst, geht doch sehr oft auf soziologische Wechselwirkungen zuruck — sei es , dafs die Reihen sich iinmittelbar gegenseitig bis zur Ahnlichkeit modifizieren , sei es, dafs sie eine Wechsehvirkiing prodnzieren oder vorfinden, die sich zu einem herrschenden Sonder- gebilde verselbstandigt hat, und dafs dieses sie alle in gleichmafsiger, nivellierender Weise beeinflufst. Selbst die Konstanz ihrer blofs numerischen Relationen gestattet oft eine Vertiefung, deren Vollendung bis zur kausalen Gesetzmafsigkeit gehen wiirde. Dafs unter m Todesfallen, etwa 10000, die Selbstmordsziffer n konstant bleibt, wird zunachst auf das Gesetz der grofsen Zahl hin behauptet: die Verschiedenheit der Einfliisse, die jedes Individuum fiir sich imier- halb eines vorausgesetzten Milieus bestimmen, gleichen sich fiir die Beobachtung aus, sobald man eine sehr grofse Anzahl von Indivi- duen, hier also 10000, in Betracht zieht; es ist wahrscheinlich, dafs, wenn sich in weiteren 10000 eine Anzahl sehr vom Durchschnitt abweichender Individuen findet, eine entsprechende Anzahl nach anderen Seiten hin abweichender vorkommen werden, so dafs der Durchschnitt, dem das Resultat n entspricht, sich wieder herstellt. Nun konnte man aber statt dieses blofsen Wahrscheinliehkeitsexempels, dessen Faktoren die isolierten Individuen mit fiir die Rechnung sich generalisierenden Verschiedenheiten sind, die in Frage kommende Gesellschaft als ein irgendwie einheitliches Ganzes ansehen, dessen innere Krafte sich im Verhaltnis seiner Teilnehmerzahl entfalten. Dann wurden durch das soziale Zusammenleben von je 10000 Menschen Zustande geschaffeu, die unter weiterer Voraussetzung ihrer er- fahrungsmafsigen charakterologischen Differenzierung tatsachlich n von ihnen zum Selbstmord treiben. Wir wissen, dafs die rein numerischen Abanderungen der Gruppe entschieden qualitative Modifikationen ihrer Zustande und Geschicke zur Folge haben. Es konnte nun sehr wohl sein, dafs m, und entsprechend seine Viel- fachen, gerade dasjenige Quantum bedeuten, bei dem die zu n Selbst- morden disponierenden sozialen Verhiiltnisse sich erzeugen. Es handelt sich also um die beiden, hier nur ganz roh skizzierten Voraussetzungen : 1. Das Zusammensein der Menschen erzeugt infolge der Verschiedenheit urspriinglicher Begiinstigung an Kraft, Klugheit, Zufalligkeit der Lage usw. Verhaltnisse der Konkurrenz, der Unter- driickung, der Versagung des Gewiinschten; und zwar stellen sich diese Folgen in verschiedenem Mafse ein , je nach der Ausdehnung des sie erzeugenden sozialen Ganzen. 2. Unter so und so vielen Menschen befinden sich so und so viele Choleriker, Sanguiniker, Phlegmatiker usw. Das Zusammentreffen dieser beiden empirischen Tatsachen bewirkt als Resultante, dafs in einem sozialen Ganzen von bestimmter Grofse eine bestimmte Anzahl von Individuen zum «1» — 107 - Die erste Wendung dieser historisehen Problemstellung hatte sich auf den „Typus" gerichtet, dessen Art und Ver- halten mit der genauesten Kenntnis seiner Einzelexemplare noch nicht gegeben, sondern erst aus ihr durch hinein- gebrachte Kategorien zu sublimieren ist; die zweite auf die begrifflichen Ausdriicke, in deren Kombinationen und Wandlungen das reale Einzelgeschehen sich seiner hoheren historisehen Bedeutung nach erfassen liefs, aber nicht durch blofse Abstraktion des ihm Gemeinsamen , sondern es wie in einem Spiegel mit besonderen Brechungsgesetzen zu einem neuen, wenn auch funktionell von jenem abhangigen Bilde zusammenfuhrend. Die dritte Wendung endlich be- traf Totah'taten , die das Erkennen durch das synthetische Nebeneinanderstellen von Einzelwesen hervorbringt ; die numerischen oder von anderen Kategorien her erfragten Verhaltnisse dieser ergeben sich erst aus den verglichenen Wirkungen oder Erscheinungen jener Reilien, und sind nicht durch irgendwelche Kenntnis der Ereignisse und Ge- schicke zu ersetzen, die sich auf deren singulare Konkret- heit und Kausalitat beschrankt. Es ist wichtig, klarzustellen, dais es sich hierbei nicht um ein faute de mieux handelt^ dem die kausale Gesetzmafsigkeit als die eigentliche und allein legitime wissenschaftliche Aufgabe gegenliberstande, sondern um Erkenntnisziele und -formen eigenen Rechtes, die sich freilich innerhalb des tatsachlichen Erkennens fort- wahrend miteinander und mit anderen verweben, oft nur in Anklangen und Bruchstucken auftreten. Aber gerade um das vielverschlungene Ganze der Historik nach den Richtungs- linien zu verstehen, die, sich kreuzend und unterbrechend, ansetzend und abbiegend, das methodische Schema dieses Ganzen zeichnen, mufs die Erkenntnistheorie seine mannig- Selbstmord getrieben wird. Wenn also die Zahl m methodisch nicht nur als eine Zusammenfassung so vieler Einzelwesen gilt, sondern als ein innerlich verbundenes Sozialwesen, das als solches besondere Eigenschaften, funktionell abhiingig von seiner Ausdehnung, besitzt: so ist der Satz, dafs unter m Menschen einer bestimmten Kulturlage n Selbstmorder sind, zwar noch immer kein fertiges „Gesetz", wohl aber jene Annaherung an ein solches, durch die uns oben die erste Rechtfertigung des BegriflPes historisch-gesellschaftlicher Gesetze ge- geben schien. — 108 — faltigen Erkenntniswege und -interessen reinlich und prin- zipiell sondern. Freilich ist dabei ein gewisses Mifsverhaltnis unvermeidlich , indera Erkenntnisformen , die in der Praxis nur selten, immer mit anderen gemischt, nie in diirch- gefiihrter Konsequenz auftreten, fiir die Methodenlehre ganz gleichbereehtigt und gleichselbstandig neben den praktiseh unvergleichlich wichtigeren stehen, weil ihre innere, begrifF- liche Bedeutung der der Naturgesetze gleicht, deren systematischer Wert von der Haufigkeit oder Durchaichtigkeit ihrer Anvvendungsfalle unabhangig ist. Ich beschliefse diese Hinweisung auf Zusammenhange, die das historische Material in besondere Erkenntnisformen giefsen und sich damit neben diejenigen historischen Ge- setze stellen, die dem naturwissensehaftb'chen Gesetzesbegriff zustreben, — diese beschh'efse ich mit einer Analogie aus der Kunst, von der ich schon im ersten Kapitel nach anderer Richtung hin Gebrauch gemacht babe. Die Malerei schafFt auch da, wo sie realistisch nur das Gegebene wiederzugeben sucht, einen Zusammenhang , Gliederung, gegenseitige Deutung der Elemente der blofsen Anschaulichkeit, die von den realen^ diese produzierenden Kraften vollig absieht oder sie nur sekundar heranzieht. Sie folgt dem einzelnen Element nie in seine kausalen Tiefen, sondern verwebt nur seine optische Oberflache mit anderen zu einem Gebilde, dessen innere Verbindungsfaden und I'.inheitsprinzipien eben rein optisch-artistisch sind und in den objektiven, immer unterhalb der Oberflache spielenden Naturkausab'taten absolut kein Gegenbikl hnden. Die naturliche Realitat kniipft diese Gegebenheiten eben nach vollig anderen, in einer ganz anderen Schicht wirksamen Kategorien zusammen^ als die Forderungen der Kunst es tun. So also verhalten sich jene Kategorien, die die Geschichte nach Typen, nach BegrifFen, nach numerischen Kelationen in Zusammenhange bringen. Sie schafFen Gebilde nach Forderungen abstrakter oder rein auf die Erscheinung gerichteter Art und lassen zwischen diesen die realistische Kausalitat gewissermafsen in der Mitte liegen. Denn die singularen Elemente, die schliefslich das Objekt der auf diese letztere gerichteten Erkenntnis sind, bilden fiir sie nur den StofF^ zu dem sie freilich ein stetiges Verhaltnis haben miissen. Aber von der I — 109 — Genesis derselben, wie sie in Naturgesetzen aufzufangen ist, wissen die hier wirksamen Bedurfnisse des Erkennens so wenig, wie das Portrat. den Naturgesetzen nachgeht, denen gemiifs die von ihm zu neuer Einheit geformte blofse Ober- flache des Menschen tatsjichlich zustande gekommen ist. Und nun komme ich nochmals auf den Ausgangspunkt dieses Kapitels zuriick: auf das Recht der Philosophic an den historischen Gesetzen. In welchen allgemeinen Wissen- schaftsbegrifl" man die Beschaftigung mit ihnen einreiht, ist off*enbar eine Frage von sekundarer Wichtigkeit. Zu leugnen aber ist nicht, dafs die beiden Moglichkeiten , ihnen nach Zuriickweisung ihrer hochfliegenden Anspriiche ein Existenz- recht zu retten, den beiden Wegen parallel gehen, auf denen auch die philosophische Spekulation ein solchesgewinnt. Wie ich schon ausfuhrlich hervorhob, hat diese der exakten Wissenschaft gegenuber die RoUe des Vorlaufers. In allgemeinem Uberschlag, in ahnungsvollem Ergreifen des noch Unbeweisbaren, in der Kombination von Begriff'en, die an der Stelle beobachteter Tatsachenzusammenhange stehen, zeichnet sie Erkenntnisbilder, die die methodische Empirie oft bestatigt, oft widerlegt; aber selbst im letzteren Fall umschliefsen den materialen Irrtum die grofsen Linien der Erkenntnisformen und -ziele, die bei voUigem Ersatz durch anderen Inhalt dennoch die Erstlinge der Wahrheit bleiben, oft auch schon die Elemente in sich tragen, fur die es nur glucklicherer Kombinationen bedarf. AUein neben dieser Bedeutung, die die Philosphie eigentlich nicht von sich, sondern von den Bestatigungen entlehnt, die sie durch andere Wissenschaften iindet, steht eine ganz andere, die in ihr selbst beschlossen ist. Sie baut ein Weltbild nach Kategorien, die mit denen des empirischen Wissens nichts — oder wenigstens nicht notwendig — zu tun haben: ilire metaphysische Deutung der Welt steht jenseits der Wahrheit und des Irrtums, die iiber die realistisch- exakte entscheiden. Wenn ihr das Dasein als die Erscheinung des absoluten Geistes oder Willens gilt, das sittliche Handeln als die Aufserung unseres Noumenon, Korper und Seele als die beiden Seiten einer einheitlichen Substanz — so liegt alles dies in einem Niveau, das die Kriterien von Bedeutsamkeit und Richtigkeit ganz in sich selbst tragt. Von diesem i — 110 — Gedankenspiegel aufgefangen, formt sicli die Welt zu einem vollig selbstgenugsaraen Bilde und genugt nur philosophischen, aber keinen aus anderen Bedlirfnissen quellenden Forderungen. Man mag philosophische Spekulationen prinzipiell oder im einzelnen Falleverwerfen; aber man kann das billigerweise nicht auf Grund der Merkmale tun, die fUr erfahrungs- wissenschaftliche Erkenntnisse liber Richtigkeit und Be- deutung bestimmen und die die Metaphysik ihrer Probleni- stellung nach ausschliefst. Diese beiden Rechtstitel der Spekulation entspreehen genau denen der historischen Ge- setze: sie sind entweder Stationen des unabsehbaren Weges, der, mit den Naturwissenschaften rangierend, an den Be- wegungsgesetzen der historischen Elemente undderKenntHch- machung ihrer unmittelbaren Energien mundet, und diesen Abschlufs bis auf weiteres durch sie antizipiert. Hier liegt der Punkt, an dem die historischen Gesetze erst dann ganz falsoh werden, wenn sie, unter dograatischer Erstarrung eines momentanen Entwicklungsstadiums, ganz richtig zu sein behaupten. Oder sie bauen aus den historischen Ge- gebenheiten eine Welt auf Grund von Kategorien auf, die in der Tatsachenforschung keine Stelle finden und linden wollen, sondern vollig autonoraen Bediirfnissender Anordnung, Umsetzung in Begriffe, synthetischen Einheit entspringen. Sowohl auf dem philosophischen wie auf dem historischen Gebiet sind beide Geltungsarten oft auf eine und dieselbe Behauptung anwendbar. Dafs die geschichtliche Evolution auf eine immer hohere Differenzierung der Personlichkeiten oder auf eine immer engere Kollektivierung gehe; dafs die moralische Kultur sich im Verhaltnis der intellektuellen entfalte oder umgekehrt eine selbstandige, gegen die letztere rein zufallige Entwicklungsformel habe : dafs die soziale Freiheit der Individuen mit der Herausbildung eines objek- tiven Geistes, eines Schatzes uberpersonlicherKulturprodukte auf wissenschaftlichem, kiinstlerischem, technischem Gebiete Hand in Hand gehe — all dieses und ahnliches mag man einerseits als Vorwegnahmen und Vorbereitungen genau erkannter , naturgesetzmafsiger Zusammenhange ansehen. Andrerseits aber, in der Schicht begrifFsmafsiger Synthesen, sind es fur sich befriedigende Projizierungen des Geschehens, die abstrakten oder phanomenologischen Kategorien, von ii — Ill — denen aus das Erkennen derartige Fragen stellt, fordern keine exakteren oder auf singularere Wirklichkeiten und Ursachen zurlickgehenden Antworten. Auch diese freilich mogen oft genug als irrig erkannt werden; was man aber an ihre Stelle setzt, sind nur andere ErfuUungen eben der- selben Erkenntnisformen und halten sich methodisch in immer gleichem Abstand von dem Ideal der naturwissen- schaftlichen Kausalitat. So enthiillen sich diese beiden Modi der historischen Gesetze als verschiedene Fragestellungen des Geistes, zwei Aspekte, die er gemafs der Mannigfaltig- keit in seinen theoretischen Bediirfnissen den Dingen gegen- iiber gewinnt, von neuem gegen den naiven historischen Realismus erweisend, dafs diese Aspekte keinen Abklatsch der Wirklichkeit, sondern eine inner-geistige Formung der- selben bedeuten; je nach dem Stockwerk gleichsam, in das man sie aufnimmt, gewinnen sie eine besondere, nur in dieses gehorige Gestalt. Jene Analogic der historischen Gesetze mit der Spekulation aber, sozusagen ihrem beider- seitigen Erkenntnisrhythmus nach, bedeutet keineswegs, dafs die Geschichte hier eine Kompetenz der Philosophic ge- worden ist, sondern dafs ganz allgemeine, unsere typischen Verhaltnisse zum Dasein ausdriickende Forderungen und Kategorien des Erkennens auf beiden Gebieten entsprechende Formungen ihres StofFes veranlassen. Drittes Kapitel. Vom Sinn der Gescliichte. Die Geringfugigkeit des Interesses, das die erkeniitnis- theoretische Reflexion seitens der Spezialforschung zii linden pflegt, erklart sich, mindestens teilweise, aus der klinstlichen Isolierung, in die sie die im praktischen Erkennen unlos- lich verbundenen Methoden versetzt. Analysis und Syn- thesis, Beobachtung und Deutung, Immanenz und Trans- szendenz der letzteren und viele andere Gegensatzpaare bezeichnen in fortwahrenden Wechseln, Kombinationen^ rudimentiiren Ansatzen den Weg der gegenstandlichen Forschung; die volligen Entgegengesetztheiten der Denk- richtung und inneren Bedeutung, die die Erkenntnistheorie hier erblickt, scheint durch das friedliehe Nebeneinander, ja, das organische Miteinander eben dieser Parteien un- mittelbar deraentiert zu werden. Die Wege der einzelnen Wissenschaften machen sogar oft einen so voUig einheit- lichen Eindruek, dais ihre erkenntnistheoretische Zerlegung gar nicht in ihrer eigenen Struktur vorgezeichnet, sondern nur durch die des reflektierenden Organes in dem Bilde, das sie in dieses werfen , erzeugt scheint. Tatsachlich ist diese Vorstellung nicht ganz irrig. Aber sie konstatiert zwischen der Erkenntnistheorie und ihrem Gegenstand durchaus kein fur jene ungiinstigeres Verhaltnis, als es iiberhaupt einer Wissenschaft zukommt. Denn keine solche ist ein genauer Abklatsch der uiigebrochenen Wirklichkeit ihres Objektes, sondern eine Projektion desselben auf eine neue Ebene, eine Nachzeichnung, die zwar zu jener ein stetiges Verhaltnis hat; aber ihre Mittel und Kategorien — 113 — entlehnt sie den besonderen Bediirfnissen und Bedingungen der wissenschaftlichen Fragestellung, die der Unmittelbarkeit des Gegenstandes gegenuber einerseits analytischer, andrer- seits synthetischer erscheint. Und dieses Recht eigengesetz- licher Formung, das das Erkennen der raumlichen Natur gegenuber unbezweifelt besitzt, das unsere ganzen Erdrter- ungen ihm auch dem seelisch-geschichtlichen Dasein gegen- uber vindiziert haben — dieses mufs ihm ebenso zukommen, wo die Erkenntnis selbst sein Objekt ist. Sobald das Er- kennen erkannt wird, steht es unter denselben Kategorien und Gestaltungsbedingungen, die auch an jedem anderen Objekte als solchem den Unterschied zwischen der Erkennt- nis seiner und seiner erlebten oder fur sich seienden Wirk- lichkeit bezeichnen. In diesem Sinne geschah es, dafs wir die Bedeutung der historischen Gesetze als Vorstadien kunftiger, auf die Kausalitat der Elemente gehender exakter Erkenntnis streng von derjenigen schieden, die sie als nicht uber sich hinausweisende Synthesen innerhalb einer hoheren BegrifFsschicht besitzen - und zugleich bemerkten, dafs diese beiden Bedeutungen ohne weiteres einer und derselben Behauptung zukommen konnen. In dem gleichen Sinne vereint die Praxis der Empirie wie der Spekulation der Historik ihre bisher besprochenen Kategorien oder Wege mit einem weiteren, den die Erkenntnistheorie in einer vollig abweichenden Richtung laufen sieht und dessen Ziele man zusammenfassend als den Sinn der Geschichte bezeichnen konnte. Selbst die begriffsmafsigsten Formungen, zu denen sich die Historik erhob; die historischen Gesetze, betrachtet als selbstgenugsame Zusammenfassungen der realen Einzelheiten nach Bedurfnissen der Abstraktion — selbst diese sind, in qualitativer Hinsicht, rein tlieoretischen, intellektuellen Wesens, in quantitativer zeichnen sie einzelne Richtlinien des geschichtlichen Seins und Geschehens nach; es sind doch die konkreten Erfahrungen, die sie, wenn auch aus ganz weiter Distanz gesehen und in wechselnden Sublimie- rungen, auf ihrem Wege begleiten. Darum konnten sie wohl als eine Analogic der philosophischen Spekulation, aber nicht als Philosophic gelten. Eine ganz neue Denk- bewegung, die Tatsachen der Geschichte aufnehmend, erofFnet Si mm el, Gescbichtsphilosophie. 2. Aufl. g — 114 — sich indes, sobald die Philosophie selbst diese als ihren Gegenstand ergreift. Was die bisherigen Erorterungen als philosophische Aufgabe fanden, war die Erkenntnis des historischen Erkennens. Die Historik lag vor, als Fest- stellung aufsererDaten und als deren psychologische Deutung, als Beschreibung von Einzelheiten und als Zusammenfassung nach Begriffen: wie innerhalb dieses wissenschaftlich Ge- gebenen sich das real, unmittelbar Gegebene zu den formen- den Kategorien des erkennenden Subjekts verhielt, war die allgeraeine Frage, die es prinzipiell und in wenigen Einzel- beispielen zu behandeln gait. Wird nun aber die Geschichte nicht von dem Gesiehtspunkt aus, dafs sie Erkenntnis ist, sondern nach ihrem Sachgehalt angesehen, nach dem, was erkannt wird, die Geschichte als Gegenstandlichkeit, nicht als Funktion des vorstellenden Geistes, — so ergeben die Probleme ihrer philosophischen Betrachtung, so weit ich sehe, zweierlei besonders charakterisierte Gruppen. Die eine basiert darauf, dafs die Geschichte eine Summe empirischer Einzelheiten ist. Es entsteht also einerseits die Frage, ob das Ganze ein Wesen und eine Bedeutung besitzt, die aus keiner Einzelheit fiir sich zu entnehmen sind, andrerseits — aber mit jenem vielleicht zusammenfallend — welches absolute Sein, welche transszendente Wirklichkeit liinter dem Erscheinungscharakter der empirisch-historischen Ge- gebenheiten sttinde. Neben dieser metaphysischen, aber noch rein theoretischen Frage erhebt sich die nach den Betonungen und Gliederungen, die der Inhalt der Geschichte durch die nicht-theoretischen Interessen der Betrachtenden gewinnt, und die vorlaufig, mit dem Vorbehalt sehr wesentlicher Modifikationen, die We r t u n g der historischen Gegebenheiten heifsen konnen. Beide Arten, uber die Geschichte zu re- flektieren — durch die sie dem wissenschaftlich erkennen- den Subjekt ferner und naher ruckt — , verschh'ngen sich, oft untrennbar, in der tatsachlichen philosophischen Speku- lation: es gehort zu den typischen Korrelationen innerhalb der Seele, dafs das Bild des Absoluten, seinem Sinne nach von allem Subjektiven und aller personalen Singularitat am weitesten abstehend, sich gerade nur der Vertiefung in die subjektivsten Energien des Fuhlens, der Stimmung, der Willenstendenzen erschliefst. Nun ist zunachst das Verhalt- ] - 115 — nis dieser Frage zu den anderen, die der gleiche Stoff auf- gibt, genau festzustellen. Wenn die gesamten Tatsachen der Geschichte uns lUcken- los und irrtumslos bekannt und wenn dazu uns alle Gesetze aufgedeckt waren, die jedes korperliche Atom und jede Vor- stellung in ihrem Verhaltnis zu alien anderen beherrschen, so warden doch offenbar die hier fraglichen Probleme damit noch nicht erledigt sein. Denn alle jene Kenntnisse halten sich auf dem Gebiete, das wir als das der Erscheinung be- zeichnen — im weitesten Sinne des Wortes und ohne damit ein erkenntnistheoretisches Dogma zu vertreten. Es bleibt also jenseits ihrer jedenfalls die Frage nach der absoluten Realitat, die hinter aller Geschichte steht, wie das Ding an sich hinter der Erscheinung. Ob dieses Sein aufserhalb der Erscheinungsreihe in pantheistischer Einheit mit dieser ge- dacht, Oder tlieistisch ihr gegenuber gestellt, oder materia- listisch geleugnet wird, ist eine mehr materielle Angelegen- heit; formell wird diese Reihe metaphysischer Annahmen dadurch bezeichnet, dafs sie liber ein Verhaltnis aussagen, welches zwischen dem Ganzen der Geschichte und einem ihm irgendwie jenseitigen Prinzip besteht. Die metaphysische Frage steigt dann in dieses Ganze hinab: ob seine Ganzheit wirklich als eine innerliche Verbundenheit gelten diirfe oder als ein Komplex von im ietzten Grunde selhstandigen Teilen; ob die Summe der historischen Bewegungen eine fiir sich befriedigende Einheit darstelle, oder ob einerseits jedes Stadium und jedes kleinste Element derselben Sinn und Bedeutung fiir sich habe oder andrerseits ihre Gesamtheit nur im Zusammenschlufs mit den kosmischen Bewegungen iiberhaupt ein sinnvolles Ganzes crgebe; ob sich in den Mannigfaltigkeiten der Geschichte ein urspriinglich einheit- licher Keim entwickelt oder ihre Einheit nur ein im Unend- lichen liegender Zielpunkt sei; die allmahlich sich ver- engende Beziehung und Verwebung urspriinglich getrennter Elemente. All diese Moglichkeiten , bejaht oder verneint, greifen prinzipiell in das Bild des geschichtlichen Verlaufes nicht ein, so wenig die symbolische Bedeutung eines Kunst- werkes die rein artistischen Zusammenhange alteriert, die jeden Teil desselben eindeutig und mit selbstgenugsamer Notwendigkeit bestimmen. Wie die vertiefte Religfositat das 8* — 11(3 — Leben als ein Ganzes deutet und tont, ohne in einen ein- zelnen Moment einzugreifen und ihm einen anderen realen Inhalt Oder individuelle Bedeutung zu geben, als die imma- nenten Umstande und Krafte der empirischen Sphare ihm erteilen, — so ergreift die Metaphysik das bistoriseh Wirk- liche als eine Ganzbeit und setzt es in Zusammenbange und Sinngebungen, die gleicbsam nur seine Grenzen umfliefsen; der Verlauf aller einzelnen Teile erscheint dadurch nicht im mindesten anders, als wenn diese Deutung ihrer Gesamtheit ubcrhaupt nicht bestande. Die gleiche historische Tatsach- lichkeit gibt den verschiedensten Antworten auf jene Fragen die gleiche Chance. Am deutlichsten vielleicht lafst die Frage nach dem transszendentenZweckderGeschichte all dieses bervortreten. Die Annuhme eines gottlicben Wesens^ das dieses ganze Spiel zu einem uns verborgenen oder ofFenbarten Zvveck abrollen liefse, wiirde nur die Kausalreihe, als welche wir es erfahren, in eine teleologische verwandeln , ohne sie in ihren Inhalten und den Gesetzen, die diese verbinden, irgend- wie abzuandern. Was die Geschichte als Wissenschaft be- schreibt, ist der Mechanismus der Mittel, der jenen Zweck verwirklicht — gerade wie die zu menschlichen Zwecken gebaute Maschine den Ablauf der in ihr wirksamen Kausal- prozesse von dem Zweck als solchem nicht durchbrechen lafst: dieser steht vielmehr vor und hinter dem Apparat, den wir vom wissenschaftlichen Standpunkt aus rein mechanisch und ohne den Willensakzent verstehen konnen, der ihn in die ganz neue Schicht des Praktischen hebt. Wird doch auch die Erkenntnis der unterpsychischen Natur in ihrem rein meehanischen Charakter nicht notwendig da- durch alteriert, dafs wir ihr Zwecke unterlegen. Wenn wir die Mittel der organischen Entwicklung festzustellen suchen, wie es etwa der Darwinismus wollte, so kounen wir ohne weiteres diesen ganzen Ablauf als Apparat oder Resultat einer gottlicben Zwecksetzung ansehen, ohne jedes einzelne Glied anderswo herzuleiten , als aus den Spannkraften des vorherigen^ die sich nach den Gesetzen des Mechanismus zu jenem entwickelten. Fur die historische Forschung ist es gleichviel, ob man die Herrschaft Gottes oder des Antichrists, ob man die schliefsliche Seligkeit aller Seelen oder die Iw ^f — 117 — Scheidung in Begnadigte und Verdammte, ob man die Auf- losung alles Geistes in das Nirwana oder die restlose Geist- werdung alles Daseins fur die Ziele halt, ohne welche die Krafte iiberhaupt nicht wirken wiirden, deren Beschreibung, als waren sie selbstandige, den Inhalt der exakten Forschung bildet. Ja, gerade zwischen der Reinheit, mit der die Immanenz aller real - historischen Erkenntnis vor jedem Eingriff metaphysischer Instanzen gewahrt bleibt — und der W^eihe aller Geschichte durch die gottliche Zwecksetzung besteht ein tiefer Zusammenhang. Nicht nur von dem oft betonten theistischen Dogma aus, dafs der Wiirde eines Gottes gerade jene technische Vollkonimenheit der Welt- einrichtung entspricht, die keine weiteren EingrifFe in ihren Ablauf erfordert und den an einzelnen Stellen mehr als anderen sichtbaren „Finger Gottes" zu einem kindlichen Anthropomorphismus macht. Sondern vor allem von der anderen Seite her: je weniger die Einzelheiten des Lebens als solche eine metaphysische Bedeutung verraten, um so dringender wird das Bediirfnis, wenigstens dem Ganzen eine solche zu leihen, und um so reiner hebt sich das Bild oder die Ahnung der transszendenten Macht, die dem Ganzen einen Sinn und Zweck gibt, aus aller triiben Gemischtheit mit empirischen Vorstellungen heraus^). ^) Dafs nun freilich der Ausschnitt aus dem Weltgeschehen, den wir Geschichte nennen, als einheitliches Ganzes von solcher ineta- physischen Bedeutung getragen ist, kann gerade als eine derartige Sonderbeziehung des gottlichen Prinzips zu einer einzelnen Seins- provinz gelten , als eine Ausnahmestellung des Menschen, die die innere Gleichmafsigkeit alles Natiirlich-Wirklichen durchbricht und damit der Metaphysik ihr nur durch den gleichmafsigen Abstand von diesem einzuriiumendes Recht nimmt. Tatsachlich ist eine theistische Metaphysik der Geschichte nur annehmbar, wenn sie sich in eine Metaphysik der Natur iiberhaupt einordnet. Allein dies kann so gesehehen, dafs die teleologische Leiter, von dem niedrigsten, unbelebten Dasein beginnend, in dem Menschengeschlecht ihre letzte Stufe findet, dafs die Geschichte der Menschheit unmittelbar zu dem absoluten Zwecke hinfiihrt. Da nun fiir jeden teleologischen Zu- sammenhang, im Gegensatz zum kausalen, nur die ununterbrochene Beziehung zu seinem hochsten Punkt erforderlich ist, so ergibt sich leicht , dafs eine auf die Menschengeschichte beschrankte theistische Teleologie den oben geriigten Fehler nicht begeht; sie t — 118 ~ Das Beispiel der Teleologie leitet zu dem zweiten Typus geschichts-metaphysiseher Problerae uber, zu demjenigen, der durch die Beziehung nieht-theoretischer Interessen zu dem Bilde des objektiven, histcrisehen Verlaufes entsteht. Denn jene transszendente Sinngebung des Geschichtsganzen branch t wenigstens nicht anders auf derartigen Interessen zu ruhen , wie alles Erkennen uberhaupt es tut: was uns zu theoretiseher Betatigung bevvegt, kann nicht selbst wieder etwas Theoretisches sein, sondern nur ein Willonsantrieb und Wertgefiihl. Darilber sind wir uns oft nur nicht klar, wenn und weil der In halt, auf den diese Energien sich richten, ein rein theoretiseher ist, und weil wir das Erkennen nur dann auf praktische Antriebe zurtickzuleiten pflegen, weiiu es durcli inhaltlich ilim fremde Motive in Betrieb gesetzt wird. Jetzt aber handelt es sich darum, jene vollig gleichmafsige Farbung aller histcrisehen Elemente^ die allein eine transszendente, ihrer Totalitat untergebaute Instanz zulassig macht, zu durchbrechen und ihre Reihen selbst zu gliedern, nach Vorder- und Hintergriinden, nach Akzenten und Gieichgtiltigkeiten, nach Vorbereitungen und Erfullungen. Die teleologische Reflexion belebt das Bild der Geschichte selbst, wenn die Individualisierung der Seelen oder ihre Egalisierung, wenn der Reichtum objektiv geistiger Gestal- tungen oder die sittliche Vollendung, wenn die Steigerung des Glucksquantums oder die allein erreichbare Minderung der Leidenssumme als der Zweck oder Sinn der geschicht- lichen Bewegungen vorgefuhrt wird^). leugnet keineswegs die gleiche metaphysische Fundamentierung der ubrigen Natur und macht niir von dem Rechte Gebrauch, die teleo- logische Kette, von oben her beginnend, an jedem beliebigen Punkte fiir die Betrachtung abzubrechen — wie die kausale Kette das gleiche Recht bei dem Fortschreiten von unten her besitzt. ^) Sobald der Zweck nicht der einer transszendenten Macht ist, die um seinetwillen die Geschichte abrollen lafst, begegnet seine Anwendung auf diese erheblichen logischen Schwierigkeiten ; denn es scheint keinen rechten Sinn zu haben, dafs gewisse Punkte in ihm die Zwecke sein sollen, zu denen das Ubrige Mittel ist, wenn diese Zwecke nicht von einem Subjekt gesetzt sind, das mindestens irgendeine Analogie zum menschlichen Bewufstsein besitzt. Die Kantische Maxime der Naturzwecke: gewisse Prozesse verliefen so, als ob sie von einem Zweck geleitet wiirden, ist hier nur in einem 119 :! ganz abweichenden Sinne anwendbar, weil es sich gerade nicht um einen Leitfaden fur die Erkenntnis der Realitaten handelt, die vielmehr schon feststehen, nicht um eine erkenntnistheoretische, sondern eine metaphysische Behauptung. Wenn also die grofsen Personlichkeiten etwa als die Zwecke der Geschichte gelten, zu denen die Existenz der Massen nur Mittel sei, oder die sittlichen Taten, die inmitten des Aufserlich-Historischen vollbracht werden, Oder der Durchbruch der Gerechtigkeit durch alles Zufallige und Gewalttatige der Ereignisse — so scheint, um dies Teleologische von dem blofs kausalen Geschehen zu unterscheiden, ein We sen erforder- lich zu sein, das sich diese Zwecke setzt. Allein, die Struktur der auf ihren Sinn hin betrachteten Dinge kann diese Hypostasierung entbehren. Der Geschichtsmetaphysiker empfindet an dem Lauf der Ereignisse, den der Geschichtsforscher ihm iiberliefert und den er in seine neue Beleuchtung riickt, die Rangierung nach Mitteln und Zwecken als eine immanente Qualitat eben dieser Inhalte : eines Sub- jektes, das diesen Zweck vorgestellt und darauf hin jene Rangierung ermoglicht hatte, bedarf es so wenig, wie es fiir die Anordnung der Dinge, die den logischen Normen entspricht, eines schopferischen Geistes bedarf, der ihnen gemafs die Dinge gestaltet hatte. Wie sie eben als Tatsachen vorliegen, erregen sie, je nach der Kategorien- schicht, die auf sie reagiert, die Vorstellung logischen oder teleo- logischen Baues. Das Bewufstsein von der Subjektivitat in einem gewissen erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Sinne, der beide Formen entspringen, hat durch die bekannte transszendente Achsendrehung auf den absoluten Geist gefiihrt, von dem die ver- niinftige oder die zweckmafsige Gestaltung der Dinge so ausginge, dafs wir sie von ihnen ablesen konnen. Wie aber die Form logischer Begreiflichkeit dieses Stadium iiberwunden hat und uns eine un- mittelbare Bestimmtheit der begrifFenen Dinge ist — so kann auch dieTeleologie als eine den metaphysisch betrachteten Dingen immanente Qualitat gelten. Gewifs wird man das damit ausdriicken konnen, dafs die Geschichte so verliefe, als ob ein Geist liber ihr gewisse Momente als Zwecke, denen alles andere diente, konstituiert hatte. Allein fur das metaphysische Bediirfnis ist dies zu wenig oder zu viel : entweder wird ihm jene absolute, zwecksetzende Macht eineGlaubens- realitat sein, oder es wird ihrer nicht einmal als eines heuristischen Prinzips bedurfen, sondern es fiihlt die Zweckmafsigkeit als den meta- physischen Sinn der Ereignisse selbst, der keines irgend personlichen Tragers aufserhalb ihrer bedarf. — Man darf die teleologische Reflexion iiber die Geschichte nicht mit derWertreflexion verwechseln. So haufig beide sich vereinen und jene innere Belebung, die das Ge- schehen durch seine Gliederung nach Zwecken gewinnt, sich an das Aufwachsen von Wertpunkten anschliefst — so ist nicht nur die logische Struktur von Zweck und Wert durchaus verschieden, sondern ihre geschichtsphilosophischen Inhalte brauchen nicht zusammen- zufallen. Man kann sehr wohl annehmen, dafs der objektive Welt- — 120 - — 121 — Nun kommt es vor allem darauf an, auch bei diesem Hinabsteigen der Spekulation in das konkrete Bild der Ereignisse ihr dennoch zugleich jenen Abstinenzcharakter zu bewahren, der dieses Bild in der Keinheit exakter Tat- sachen fortbestehen lafst. Prinzipiell hat dies keine Schwierig- keit; denn die nacli Zwecken, Werten, Bedeutungen organisierte oder abgetonte Keihe hat genau denselben Inhalt, wie die nach theoretischen Kategorien gebaute. Mit den realen Kraften, die jedes Element dieser Reihe in seiner Genesis verstandlich maehen, mit den BegrifFen, die seinen Inhalt logisch explizieren, haben die Lichter und Schatten absolut nichts zu tun, die ihr Bild in dem Augenblick erhalt, in dem es in die gefiihls- und willensmafsigen Schichten unseres Bewufstseins fallt. Das einfachste Beispiel soleher Doppelbetraehtung gibt die sittliche Beurteilung des Handelns , so dafs es schon eine Trivialitat ist, hervorzu- heben, dafs das kausale Verstandnis jegliches Tun als das genau so notvvendige zeigt , wenn unser sittliches Urteil ihm die hochste Wiirde, wie wenn es ihm die tiefste Immoralitat zuspricht; und dafs ebenso umgekehrt, das Reich des Gesollten, das die sittliche Forderung baut, in seiner Bedeutung uberhaupt davon nicht beriihrt wird, wie lange oder kurze Strecken weit die psycliologische Wirk- lauf sich zu irgendeinem Zwecko aufgipf le, den eine immanente oder transszendente Macht ihm vorgesetzt hat, und kann dennoch nicht aus diesem Zweck, sondern aus irgendeiner Station des Weges zu ihm das Gefiihl eines Wertes gewinnen. An unzahlige Punkte der Geschichte mag sich dieses Getuhl heften, unzahlige Male moge es uns sagen, dafs um dieser Tat, um dieser Empfindung willen, von der wir horen, es sich wohl lohnte, den ^^anzen Apparat der Geschichte mit all seinen Leiden und negativen Werten in Bewegung zu setzen — wiihrend wir zugleich iiberzeugt sind, dafs nicht um dieser Momente willen^ sondern zu ganz anderen, zukunftigen oder umfassenderen Zwecken, der Mechanismus der historischen Mittel arbeitet. Wir konnen ferner sehr wohl eine objektiv^e Zweckmafsigkeit des geschichtlichen Ver- laufs anerkennen und ihm dabei doch den Wert iiberhaupt absprechen, etwa mit dem Ausdruck, dafs die Welt zwar relativ so gut und zweckmafsig wie moglich, absolut genommen aber aufserst schlecht eingerichtet ist und unter dem Nullpunkt des Wertes bleibt. Man kann endlich jede Zweckmafsigkeit der historischen Dinge leugnen und es dennoch als wertvoll empfinden, dafs dieses oder jenes oder ihre Gesamtheit existiert. r i lichkeit ihm parallel geht. Die Reihe des Geschehens, nach sittlichen Werten und Unwerten geformt, hat einen absolut anderen Rhythmus, andere Hohe- und Tiefpunkte, andere Farben, wie unter der Kategorie der theoretischen Historik — obgleich beide den absolut gleichen Inhalt haben; jede von beiden liegt in einer Dimension, in die die andere nicht hineinreicht. Und neben beide mag sich etwa noch die asthetische Betrachtung stellen, die freilich gegeniiber dem Handeln und namentlich seiner historischen Totalitat kaum wirksam geworden ist. Zweifellos aber kann diese auch nach asthetischen Werten gegliedert werden. Harmonien und Kontraste, die Phanomene der Anmut und des Tragischen, die Stufenreihe vom Schonen durch das asthetisch Gleich- gultige zum Hafslichen — diese und viele verwandte Kategorien teilen auch die Welt des Handelns unter sich auf, und geben ihr einen Sinn jenseits ihrer blofsen Tatsachlichkeit wie ihres ethischen Wertes. Die Projektion der Ereignisse auf diese Ebene erzeugt ein vollig autochthones Gebilde, Erhebungen und Abflachungen in der Geschehensreihe, Verkniipftheiten undLosungen, Belebtheiten und Stagnationen, die sich in keiner anderen Auffassung des Wirklichen wiederholen. Und dies ergibt entsprechende Moglichkeiten der Spekulation : aus den ethischen wie den asthetischen Reihen folgen Periodeneinteilungen und Entwicklungen, Ahnungen eines tieferen Sinnes der Ereignisse, teleologische Zuspitzungen, kurz, Reflexionen iiber die Geschichte, die ihr Wirklichkeitsbild in keiner Weise alterieren, sondern nur die Art ausdriicken', wie sich gewisse Gefuhls- oder Wertungsinteressen grade an diesem Bilde befriedigen. Der Bezirk soleher nicht-theoretischen Betonungen, mit denen wir die theoretische Aufreihung des Geschichtlichen begleiten und deren Kristallisierung zu besonderen Bildern die Philosophic der Geschichte ausmacht, ist, soweit ich sehe, noch nicht in seinem ganzen Umfang festgestellt. Damit, dafs man diese Betonungen als Wertungen bezeichnet, wie es zu geschehen pflegt, ist es nicht abgetan. Denn entweder ist dies ein blofser AllgemeinbegrifF, in den man alle gefiihlsmafsigen Beleuchtungen und nicht-theoretischen Reihenbildungen der Historik zusammenfafst — dann hat die Aufgabe damit einen einheitlichen Namen, aber keine — 122 — 123 — Losung gewonnen. Oder man raeint damit wirklich die spezifische Qualitat, die einzelnen Inhalten als Gliedern dieser neuen Ordnungen zukommt — so erschopft sie in keiner Weise den Reichtum der hier wirksamen Kategorien, von denen ich einige weitere andeute. Wir bezeichnen Erscheinungen als „bedeutend", ganz von der Stellung ab- sehend, die sie auf einer der eigentliehen Wertskalen ein- nehmen. Sie werden eine solche Stellung haben, ja, diese kann eine Veranlassung sein, sie als „bedeutend" zu empfinden. Allein dieser BegrifF hat einen anderen Sinn als den des Wertes. Das Wertvolle und das Bedeutende enthalten zwei verschiedene — wenngleich in ihrer Verschiedenheit mehr zu fuhlende, als unzweideutig zu beschreibende — Mischungen der Betonung, die einer Erscheinung rein in und durch sieh selbst zukommt, mit derjenigen, die sie durch Wirkungen auf andere Erscheinungen, durch Beziehungen und Ver- gleiche mit dem sonstigen historischen Dasein gewinnt. Das Bedeutende besitzt den Doppelsinn des „Guten", das zu- nachst zu etwas oder fur jemanden „gut" ist, dann aber, diese Relation scheinbar unlogisch abstreifend, sich ver- absolutiert und eine innere, nur auf das Ideal des Dinges selbst hinsehende Qualitat dieses vvird. Diese einzige Relation : zu demjenigen, was das Ding sein soil, zu dem Bilde seiner Vollendung, das in ihm selbst wie mit ideellen Linien vor- gezeichnet ist und der Nachzeichnung durch die Wirklich- keit harrt — kann in dem BegrifF des Guten alle anderen Relationen beerben, die ihm sonst seine Inhalte gaben. Irgendwie ahnlich verhalt es sich mit dem Bedeutenden. Rein begrifFlich mufs es etwas bedeuten, oder fiir jemanden etwas bedeuten. Aber die Qualitaten des un- mittelbaren Daseins, die, gleichsam uber dieses hinaus greifend, der Erscheinung solche relative Bedeutung ver- schaffen, konnen auch rein fur sich empfunden werden, und die Erscheinung ist insofern fur uns schlechthin „bedeutend'\ Wir bezeichnen damit einen Akzent, der die Personen und Ereignisse in sehr mannigfachen Starkegraden trifft und durch eben diese eine vollkommene Rangierung derselben ermoglicht: mit den Reihen , die von der Kategorie des Sittlichen und Unsittlichen, des irgendwie Erfreulichen oder Unerfreulichen , ja selbst des Starken und Schwachen uns i i erwachsen, konsoniert diese nicht, wenigstens nicht prin- zipiell. Sie wird es tatsachlich oft tun, Sittliches oder Un- sittliches, Schones oder Hafsliches wird seinem Trager die Qualitat verleihen, fiir uns „bedeutend" zu sein; aber immer bleibt diese jenem gegeniiber ein Novum und so unabhangig, dafs der gleiche Grad solcher Werte doch oft in die spezilische Kategorie des Bedeutenden nicht eintritt. Eine andere der Kategorien, die von unseren Geftihls- reaktionen her dem objektiven Verlauf des Geschichtlichen eine Gliederung nach Reizverschiedenheiten lafst, ist das Extreme und sein Korrelat, das Typische. Ein Interesse, das jenseits des blofs theoretischen an jenem Verlauf liegt, kniipft sich an Erscheinungen, wenn wir sie als die aufsersten Stufen von Qualitatsskalen emptinden, die sich vielleicht aus historisch ganz auseinanderliegenden Elementen, durch Ver- gleich sonst ganz heterogener Phanomene gebildet haben. Die rein formale Tatsache, eine aufserste Grenze mensch- licher Moglichkeiten vor uns zu haben, erregt eine psycho- logische Reaktion, die in hohem Mafse von dem In halt dieses Extremseins unabhangig ist. Wie schon nach den landliiufigen Erfahrungen der Praxis „die Extreme sich be- riihren", so besteht zwischen allem Aufsersten im Sein und Tun der Menschen eine geheime Verwandtschaft auch in Hinsicht der Gefuhle, mit denen wir es aus dem blofs kau- salen Verlauf der Ereignisse herausheben — so weit Gefuhle anderer Kategorien das so Zusammengehorige auch aus- einandertreiben mogen. Aber die Schauer, mit denen wir die Monstrositat des Verbrechens begleiten , enthalten oft einen Reiz, dessen Bezeichnung als „damonisch" eine Art Entschuldigung enthalt, dafs irgendeine Attraktion uberhaupt solche Taten in die Nahe des anderen Wertextrems bringt. Im formalen Gegensatz zu diesem Interesse steht das an dem typischen Charakter der Erscheinungen . Beide gelten gewissermafsen quantitativen Bedeutsamkeiten : jenes dem aufsersten Quantum einer Qualitat, dieses dem Quantum von Personen oder Ereignissen, das durch eine Einzelerscheinung vertreten wird. Auch die Schatzung der typischen Be- deutsamkeit des Einzelnen stellt sich jenseits der kausalen Aufreihung, aus der es oft ganz unzusamnienhangende Tat- sachlichkeiten als Material zur Typenbildung herausgreifen - 124 — mufs; ebenso aber ersichtlich jenseits aller Wertung nach sonstigen normativen Mafsstaben. Es ist ein ganz primares Interesse, das sich an die Erscheinung blofs darum, well sie ein Typus ist, kniipft, obgleich naturlich sein Mehr oder Weniger von der inhaltlichen Bestimmtheit der typisierten Existenzen abhangen wird. kSovvohl das Extreme wie der Typus ist in hoherem Mafse objektiv, in geringerem eine blofse Projektion unserer Gefuhle, wie das Wertvolle oder das Bedeutende oder einfach das Interessante. Allein wir erblicken doch einen Sinn des geschichtlichen Daseins darin, dafs seine Erscheinungen einerseits nicht in der Gleichformigkeit mittlerer Qualitaten abrollen, sondern sich nach alien Richtungen hin zu Extremen steigern; dafs sie sich andrerseits nicht unvergleichbar und einander qualitativ fremd darstellen, sondern eine ideelle Zusammenordnung besitzen, die einzelne Menschen, Taten, Zustande zu Ver- tretern eines ganzen Kreises ahnlicher macht. Aus beiden Tatsachen kann eine Metaphysik der Geschichte Bedeutsam- keiten konstruieren, aufserhalb jenes blofs exaktenhistorischen Bildes, in welchem sich die extremen Erscheinungen ebenso wie die durchschnittlichen, die typischen ebenso wie die ganz individuellen mit gleichgiiltiger, innerlich undifferenzierter Notwendigkeit erzeugen. Dafs die beriihrten Tatsachen diese Funktion iiben, der Geschichte iiber das blofs Tat- sSchliche hinaus als Akzentuirung oder Gliederung oder Vertiefung zu dienen — das ist der Ausdruck der Gefiihls- reaktionen, die das theoretische Bild mit Farben, wie sie nicht ihm, sondern nur jenen eigen sind, ausstatten. Diese Erorterungen sehen schon lange auf den Gesichts- punkt zuriick, von dem dieses Kapitel ausging: dafs die methodischen BegrifFe, die die Erkenntnifstheorie ganz ver- schiedenen Schichten des Denkens zuweist, in der Praxis desselben fortwahrend gemeinsam und abwechselnd an- gewandt werden. Die Reflexe, die unsere spekulativen und nicht- theoretischen Interessen auf die Ergebnisse der Historik werfen, sind freilich die Elemente historischer Metaphysik, und diese ist ganz anders orientiert als die theoretische Schilderung des Geschehens und findet in der strengen Sonderung von letzterer ihr wissenschaftliches Existenz- recht. Allein jene reine Theorie ist ein nie ganz realisiertes — 125 — Ideal und tatsachlich auch ihrerseits von der Wirksamkeit der metaphysischen Kategorien durchzogen. Die Spekulation liber die Geschichte ist zum grofsen Teil nichts anderes, als die gesonderte Heraushebung , Vervollstandigung, prinzipienmiifsige Aneinanderordnung von Voraussetzungen und Triebkraften , die schon in der Gestaltung des Geschehensmaterials zur exakten Geschichte wirksam sind. Man wird jene in ihrer Genesis nicht voUstandig verstehen, w^enn man nicht die Ansatze zu ihr, ihre partiellen Wirksam- keiten, ihr oft verstecktes Sich-Aufarbeiten in den ein- facheren, konkreten Feststellungen der Historik verfolgt, die sich freilich ihrem erkenntnistheoretischen Sinn nach von jener scharf trennen. Die Gebilde, deren reines Wesen durch einen BegrifF der hoheren Geistigkeit bestimmt wird, sind zwar ihrem Sachgehalt und Wert nach von der Art ihres historischen Aufwachsens ganz unabhangig; allein da unser Vorstellen sich dieser logischen Sachlichkeit nur asymptotisch nahern kann und selbst etwas psychologisch- historisches bleibt, so ist ihm die Einsicht in die geschicht- lich-reale Entwicklung jener Gebilde doch auch ein Stiitz- punkt filr die Einsicht in ihre uberhistorisch-sachliche Be- deutung. So etwa der Religion gegeniiber. In unzahligen Beziehungen des Lebens finden wir Gedankenelemente, Willenstendenzen , Gefiihlserregungen , die , aus ihren singularen Verbindungen gelost, glcichsam zuni Absoluten gesteigert und um einen Mittelpunkt gesammelt, zur Religion werden. Das Verhalten des Patrioten zu seinem Vaterland, des pietatvollen Kindes zu seinen Eltern, des Enthusiasten zu seinem Ideal, des Soldaten zu seiner Fahne — alles dies enthalt Momente der Religiositat; Religion ist das eigne Leben, zu dem sich jene Gefuhle erhohen und ver- weben, die sonst nur wie in Funken die einzelnen Interessen- gebiete durch warmen; der Gegenstand der Religion ist ihr Schnittpunkt im Unendlichen , das differentielle und — richtig verstanden — abstrakte Gebilde, zu dem sie kristallisieren. Mit dem Rechte, mit der Kunst, verhalt es sich nicht anders. In den einfacheren und konkreten An- gelegenheiten und Inhalten des Lebens sind fortwahrend Elemente rechtlicher und asthetischer Art wirksam, als un- entbehrliche Normen oder als Energien der praktischen Pro- — 126 — zesse dienend, aber in dieser Funktion so verstreut und rudimentar, wie es eben der Zufalligkeit jener Prozesse entspricht. Aus diesen aber herausgehoben , wachsen sie schliefslich zii ideellen Gebilden auf, gewinnen zu ilirer Geistigkeit einen Korper lioherer Ordnung, gelien aus all den Ansatzen und auseinanderliegendcn Elementen zu den Einheiten des nun selbstandig bewufsten Rechtes oder der autonoraen Kunst zusammen. 80 linden sich die Motive, mit denen die Spekulation uber das tlieoretisch exakte Bild des Historischen hinausgreift , docli schon in diesem Bild selbst, aber hier eben nur als Anregungen wirkend, die von einer gewissen Entfernung her das Material gestalten helfen, als Voraussetzungen , die nicht sowohl die Einzel- beiten, als die Tatsache, dafs diese uberhaupt theoretisch fixiert werden, beeinflussen, als oft unbewufste Vorurteile, die nur den Ton des Ganzen bestimmen und so weder be- weisbar noch widerlegbar sind. Erst die Geschichts- philosophie hebt sie aus dieser fragmentarischen und ver- borgenen Wirksamkeit zur Geschlossenheit in sich und selbstgenugsamen Vollendung. Die erste ubertheoretische Tatsache innerhalb der Historik ist das Interesse, das die Theorie uberhaupt motiviert. Das Erkennen als Gauzes kann ersichtlich nicht aus dem Erkennen hervorgehen und ebenso sicher gilt dieses notwendige Zuriickgehen auf nicht-erkenntnismafsige Triebfedern auch fur die grofsen, gegeneinander selbstandigen Provinzen des Wissens. Es genugt auch nicht, das Interesse am Wissen uberhaupt als die ganz selbstverstandliche, ein fur allemal gultige Voraussetzung jeder Wissenschaft zu bezeichnen, die den Bestand des Erkennens so wenig alterierte, wie er, nach der anderen 8eite bin, durch die Tatsache, dafs er aufserhalb des Denkens ist, in seinen Inhalten modifiziert wird. Denn dieses Interesse besteht durchaus nicht in so unterschiedloser Allgemeinheit; es gibt vielmehr unzahlige mogliche Gegenstande eines' Er- kennens, an die man ein solches nicht wendet, weil ihrem Erkenntnisbilde der Wert fehlen wiirde — der Wert, der in vielen Fallen auf einen anderen zu begrunden ist, in letzter Instanz aber auch hier in einer nicht zu ratio- nalisierenden Schatzung besteht. Es mag einen „Trieb zum I . — 127 — Erkennen uberhaupt" geben, in demselben Sinne, wie es Hunger gibt, als ein rein von seinem terminus a quo her bestimmtes Gefuhl, das als solches uberhaupt noch keine Beziehung zum Objekt, also auch nicht zu einem besonderen Objekt hat; allein da es unter alien Objekten nur sehr wenig efsbare und unter diesen nur wenig in dem gegebenen Augenblick zugangige gibt, so spitztsich der Hunger praktisch ohne weiteres auf bestimmte Gegenstande zu. Dem Er- kennen aber mangelt diese, durch die Sonderart des Triebes selbst gegebene Auswahl, und der allgemeine Erkenntnis- trieb wiirde uns deshalb ratios vor die Unermefslichkeit moglicher Ziele stellen, wenn er sich nicht durch die be- sondere Kraft, durch die einer seiner termini ad quos ihn viel mehr als ein anderer anzieht, von vornherein differenzierte. Das geschichtliche Erkennen nun haftet an zwei elementaren Interessen. Einmal an dem historischen In- halte: an den Verwebungen zwischen dem Schicksal und den individuellen Energien, an den Grofsenmafsen des Wollens und Vollbringens, die die Einzelnen und die Gruppen zweckvoll oder zwecklos einsetzen, an dem Rhyth- mus dieses unabsehbaren Spieles von Gewinn und Verlust, an den Reizen der Verstandlichkeit wie denen der Viel- deutigkeit, mit denen das seelisch - historische Dasein es unserer Seele vergilt, dafs sie es nie ablesen kann, sondern immer neu in sich erzeugen mufs. Allein , indem diese und unzahlige andere Interessen, ohne die es fur uns iiber- haupt keine Geschichte als Forschungsgebiet gabe, eben dem Inhalt desselben gelten, wiirden sie nicht anders einem Schauspiel zukommen, das eben dieselben vorfiihrte. Unser Geist hat die eigentumliche Fahigkeit, an seine Vor- stellungen auch dann Gefiihlsreaktionen zu kniipfen, wenn sie rein ihrem qualitativen Inhalt nach und ohne jede Frage nach ihrer Realitat gedacht sind. Diese Reaktion ist oft schwacher, oft reiner, oft uberhaupt ganz anders getont, wie wenn derselbe Inhalt unter der Kategorie der Realitat vorgestellt ist. Den blofsen Gedanken einer sehr edlen oder sehr abscheulichen Tat, das blofse Vorstellungsbild einer eigenartig komplizierten Personlichkeit oder eines merkwurdigen Schicksals begleiten wir mit Gefuhlen, die - 128 - weder davon abhangen , dafs vvir wissen, diese Menschen und Ereignisse habe es in Wirklichkeit gegeben, noch ver- schwinden, wenn wir uns ihrer Irrealitat bewufst werden. Die naheliegende Erklarung: dies seien eben assoziative Nachklange derjenigen Reaktionen , die die Wirklichkeit solcher Inhalte, die auf uns einwirkenden Objektivitaten, in uns wachgerufen haben oder wachrufen wiirden — scheint mir nicht ganz so zutrefFend , wie naheliegend. Denn sie ist zunachst voUig iinbevviesen. Liefse es sich wirklich plausibel machen, dafs keines der fraglichen Gefiihle ur- sprlinglich anders als auf die Veranlassung durch einen seien den Gegenstand bin auftritt, so beweist das nur, dafs die dem blofsen Inhalt geltenden Gefiihle ihrer psycho- logischen Eigenart nach dieser starkeren Anregungen durch sinnliche Wiiklichkeiten gleichsam als Schrittniacher be- diirfen; aber nicht, dafs sie nicht nach Erfiillung dieser Bedingung als etwas Selbstandiges und keineswegs in Um- fang und Intensitiit von jenem Abhangiges existierten. Von derartigen Verhaltnissen ist das Seelenleben erftillt. Wie oft bedarf es, damit wir zwei Gegenstande als vollig noit einander ubereinstimmend erkennen, nur der leise an- deutenden Hervorhebung eines einzelnen Gleichheitspunktes ! Aber nicht, dafs dieser demonstriert ist, hat uns von der fraglichen Gleichheit uberzeugt, sondern diese ist unbewufst oder latent langst in uns vorhanden, und jener ausdriick- liche Hinweis bricht sozusagen nur das Eis, bewirkt, dafs nun von ihm ganz unabhangige Verhaltnisse uns klar werden, die es nicht ohne ihn, aber nicht durch ihn werden. Der Fehlschlufs: einen seelisch-unsinnlichen Vorgang fiir die blofse Nachwirkung und quantitative Herabsetzung seiner sinnlich-realen Anregung zu halten — ist fUr alle naturalistische Psychologic charakteristisch. Es ist nicht eigentlich der Irrtum des post hoc ergo propter hoc. Denn eine Verursachung durch die aufsere Erfahrung li'gt tat- sachlich vor^ nur ist sie keine andere, als die „ Verursachung" der Pulverexplosion durch den Funken. Ja, man konnte sagen : was auch die allerhandgreif lichste Erfahrung in der Seele hervorbringt, ist die Vorstellung ihres logisch aus- driickbaren Inhaltes, und diesem gelten zunachst alle Gefiihle, die die Erfahrung anklingen lafst. Dafs dieser f ,. — 129 -~ Inhalt aufserdem Erfahrung ist, d. h. sich ais objektive Realitat verkiindet, hat gleichfalls gewisse Gefuhlswirkungen, auf die ich nachher komme, die als Tonung, Weiter- entwicklung, Abanderung jener wirken mogen: aber dies hindert absolut nicht, dafs die reinen Inhaltsgefiihle eine Domane fur sich bilden, dafs sie nach dem Verschwinden der durch das Sein erzeugten in ihrer Eigenheit hervor- treten und dauern, vor allem, dafs sie in der psychologischen Analyse von jenen getrennt werden. Nach dem Inhalte einmal gegeben sind — vielleicht nur durch Erfahrung — entwickeln sich fur sie Interessen, die sich auch bei jeder anderen Form, in der jene ftir uns bestehen oder bestehen konnten, einstellen wiirden. Dieser Art also ist das eine Element des historischen Interesses, dasjenige, das der Sprachgebrauch als die „Interessantheit" im engeren Sinne bezeichnet. Fiir dieses, in seiner Reinheit, besteht kein wesentlicher Unterschied, ob der Vorgang, die Personlich- keit, der Zustand, sicher oder unsicher Uberliefert sind, auch die chronologische Stelle ist ihm nur wichtig, insofern sie auf die qualitative Bestimmtheit des Inhaltes von Ein- flufs ist, was freilich fiir einen hoheren Standpunkt so gut wie immer der Fall ist. Der innere Sinn dieses Interesses ist, dafs es sich auch der blofs erdichteten Begebenheit nicht weniger als der wirklichen leiht, weil es eben blofs dem Inhalt, aber nicht der Seinskategorie gilt, in der dieser sich darstellt. Es ist dasjenige, an dem die individuelle Diflferenz der fiir die Geschichte produktiv interessierten Personen sich auf das wirkungsvollste zeigt. Nicht nur beziiglich der Abgrenzung des zu behandelnden Gebietes; sondern, wesentlicher aber nicht immer ebenso deutlich, an der Zusaramendrangung oder Ausfiihrlichkeit der Schilderung, an der Hervorhebung der entscheidenden Punkte, an der Warme oder Kiihle des Darstellens, an seinem epischen oder dramatischen Charakter. Hier an eine Objektivitat zu glauben, die Anordnung und Betonung rein durch die sach- liche Wichtigkeit bestimmen liefse, ist eine Selbsttauschung. Was ist denn „sachlich" wichtig? Beschrankt man die Wichtigkeit wirklich auf das einzelne Ereignis oder sonstige historische Elemente, so ist sogleich unzweifelhaft, dafs man sie „darauf leg en" mufs: es ist wichtig, weil es den Be- Simniel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 9 — 130 - trachtenden interessiert. Es mag „an sich" sittlich oder verderblich, gigantisch oder idylHsch, glanzend oder tief sein — wichtig in dem Sinne, dafs es den Orientierungs- oder Organisierungspunkt der geschichtliehen Darstellung abgibt, ist es ausschliefslich durch das Interesse, das das Gefiihl des historisch Betrachtenden daran knlipft. Ein sachliches Kriterium scheint sieh hochstens zu ergeben, wenn man Uber das Einzelelement hinausgehend die Wichtigkeit von den Folgen seines Eintretens entlehnt. Allein wenn nun die Folgen nicht eben jenen Wichtigkeits- akzent zeigen, so ist nicht einzusehen, weshalb ihre Ursache ihn besitzen sollte. Wenn sie ihn aber zeigen, so liber- tragt ihr objektiver Zusammenhang mit ihrer Ursache ihn freilich auch auf diese, ohne dafs er selbst darum weniger subjektiv ware, ah in dem ersten Falle. Man konnte einen objektiven Charakter der historischen Wichtigkeit noch dadurch zu gewinnen versuchen, dafs nicht irgendwelche Qualitat der Folgen, sondern ausschliefslich ihre Quantitat dariiber entschiede, ob das verursachende historische Element wichtig ware: das Folgenreiche ware als solches das historisch Wichtige, das Isolierte, das seine Energien mit seinem eigenen Ablauf erschopft und die Weiter- entwicklung nicht nach sich bestimmte, ware unwichtig. Dafs die Historik auf das Element, das eine Fiille von Folgen zu entfalten fahig ist, mit dem Wichtigkeits-Gefuhle reagiert, bliebe freilich immer subjektiv, aber diese Sub- jektivitat ware objektiv normiert, sie wtirde als konstante Voraussetzung mindestens den individuellen oder willkUr- lichen Differenzen entzogen und das berechtigte Mafs der Wichtigkeit wenigstens prinzipiell in jedem einzelnen Fall erweisbar sein. Allein unmoglich konnten damit die „Folgen" im naturwissenschaftlich-kausalen Sinne gemeint sein, von denen uberhaupt jedes Geschehen eine unendliche Reihe entlafst; sondern nur die historisch wichtigen Folgen, womit dann ersichtlich die Frage wieder auf dem alten Flecke stande. Indessen konnte man auf diesem Wege, wenn man ihn in das ganz Hypothetische und Spekulative fortsetzen wollte, doch noch einen Schritt naher an eine derartige objektive Quantitatsbestimmtheit der Wichtigkeit oder des % MS; Ui i — 131 - Interesses historischer Elemente herankommen. Aufser den Folgen kausal - naturlicher Art, die unermefslich und eben nur zum kleinsten Teil erkennbar sind, und denen des schon als historisch-bedeutend Anerkannten, das eine Auswahl aus dem Erkennbaren darstellt, gibt es die dritte Art : die zwar erkennbaren oder wenigstens im tjberschlag uberschauten, aber noch nicht in die Kategorie der historischen Bedeutung erhobenen Wirkungen einer Tat, Person, Zustandlichkeit. Und nun gibt vielleicht doch das blofse Quantum dieser Folgen, wie wir es bewufst oder unbewufst schatzen, das Mafs ab, in dem wir mit dem Gefuhl historischen Interesses auf die veranlassenden Elemente reagieren. Diejenigen unter diesen, die wir als die „ wichtigen" bezeichnen, sind genau angesehen doch wohl solche, deren Folgen uns in grofserer Fulle absehbar, quantitativ abschatzbar sind, als die der „un wichtigen" Ereignisse. So konnte die obige Forderung, dafs diese Folgen selbst schon historisch be- deutend sein miifsten, um diese Qualitat auf ihren Ausgangs- punkt zuriickzustrahlen , mit logischem Recht abgelehnt werden : denn historisch interessant ware uns eben nur das, worauf innerhalb der uns — klarer oder instinktiver — erkennbaren Reihen seelischen Geschehens ein gewisses Quantum von Ereignissen zuriickfuhrbar ist. Jedes von diesen Ereignissen braucht an sich so wenig fiir die Historik bedeutsam zu sein, wie von den Hauteindrlicken, auf deren Summierung wir mit einem Schmerzgefuhl reagieren, jeder einzelne schon fiir sich allein schmerzhaft ist. Beachtet man nun, dafs das historisch Interessante sich allmahlich abstuft, bis zu Erscheinungen hinunter, die keinerlei Gefuhls- betonung fiir uns besitzen, oder vielleicht in anderer Hin- sicht, aber nicht in historischer, — so konnte man von einer, an jenen Folgen-Quantitaten abmefsbaren Schwelle deshistorischen Bewufstseins sprechen. Dieser Be- grifF mufs hier hervorgehoben werden, weil er zu den tiber- theoretischen Voraussetzungen der historischen Theorie ge- hort, die den wissenschaftlichen Realismus und Naturalismus derselben entscheidend zuriickweisen und deren verselbst- standigende Hoherfiihrung den Stoff oder die Form zu der Metaphysik der Geschichte abgibt. AUe hoheren Gebiete des Geistes zeigen Schwellen- 9* I — 132 — Erscheinungen. Vielerlei Formen, ja vielleicht alle, die asthetisch wirksam sind, konnen dies doch erst von einem bestimmten Grofsenmafs an; unterhalb dieses haben sie zwar die Wahrnehmungsschwelle, aber nicht die dea Asthetisehen uberschritten. Vielerlei Tatsachen, die im kleinen Mafsstab indifiPerent oder humoristisch wirken, iiber- schreiten die Schwelle der tragischen Empfindung, sobald sie in grofsen Dimensionen auftreten, sich als Typen weiter Lebensprovinzen enthullen. Das Rechtsbewufstsein entfaltet seine spezifischen Reaktionen gleichfalls erst auf eine gewisse Grofse von Vorgangen bin : der Diebstahl einer Stecknadel ist zwar zweifellos Diebstahl, er steht ganz innerhalb der Schwelle dieses Begriffs, aber noeh aufserhalb derjenigen, an der die praktisch-rechtliche Verfolgung eines Reates beginnt. Und so allenthalben : die Elemente, die die Re- aktion einer bestimmten Gefuhlsschicht hervorrufen, tun dies erst von einer bestimmten Quantitat an, wahrend sie unterhalb derselben sehr wohl schon die Schwellen einer oder mehrerer anderer Bewufstseinsenergien uberschritten haben konnen. Nun gibt es unzahlige Ereignisse und keineswegs nur in der Gegenwart des unmittelbaren, per- sonlichen Lebens, die wir feststellen konnen oder konnten, und die dennoch nicht in das historische Interesse auf- genommen werden. Wenn wir aus dem Tagebuch einer sonst unbekannten Person aus dem 18. Jahrhundert er- sehen, dafs sie mit einer ebenso unbekannten Freundschaft geschlossen hat oder von lebhafter Teilnahme an der franzosischen Revolution erflillt war, so sind dies zwar logisch-begrifFlich historische Tatsachen; allein in dem sachlich bedeutsaraen Sinne des Wortes sind sie es nicht, sie haben kein historisches Interesse. Und zwar nicht weil es ihnen an menschlichem Wert oder Interesse fehlte: wir konnten von beiden wissen, dafs sie von den tiefsten sitt- lichen Impulsen getragen, dafs Bewegtheiten und seelische Schonheiten des hochsten Ranges in ihnen lebten; aber das lafst sie noch nicht die Schwelle der historischen Bedeutung tiberschreiten. Und zwar moglicherweise, weil das Quantum der von uns iiberschauten Folgen dieser Tatsachen dazu nicht erheblich genug ist. Horen wir dasselbe von Personen, deren Wirksamkeit fiir weiter folgende Ereignisse uns be- i 1 I — 133 -- kannt ist, so gewinnt es historischen Wert, weil wir ver- folgen Oder ahnen konnen, inwieweit jene Tatsachen ihre weiterwirkenden Kausalitaten mitbestimmt haben, wir er- blicken, deutlicher oder verschleierter , eine Vielheit von Folgen, in die sich eine derartige Freundschaft oder politische Erregung verzweigt. Ereignisse, die fur unsere Erkenntnis isoliert sind, sind keine „ historischen " i); sie werden es in dem Mafs, in dem wir Folgen-Reihen von ihnen ausstrahlen sehen. Solche unendlich mannigfaltigen und in unzahlbaren Kreuzungen sich ergehenden Reihen bilden schliefslich die kompakte Masse, die wir „die Ge- schichte" schlechthin nennen ; und das Gefuhl der historischen Bedeutung, das von dem aller anderen Bedeutungen oder Werte spezifisch unterschieden ist, ist einer Erscheinung gegenuber in dem Verhaltnis starker oder schwacher, in dem sich ihre Wirkungen in diesen — zwar unsicher begrenzten und in viele relativ gesonderte Provinzen zerfallenden, seinem Kerne nach aber ganz unzweideutigen — Komplex verweben. Diese Vielheit der erkennbaren Wirkungen i s t nicht historische Bedeutung im Sinne einer objektiven Eigenschaft, die dem Ereignis zukame; aber sie bewirkt sie in uns, als die Erregung einer besonderen seelischen Energie. Es ist hier wie mit alien Schwellenerscheinungen : die quantitative Haufung von Elementen schlagt von einem bestimmten Punkte an in eine qualitative Modifikation ihres Effektes um. Dies mag ein Grund sein, weshalb wir Er- eignissen und Personen naher Vergangenheit gegenuber den Mangel historischer Perspektive fuhlen: sie hatten noch keine Moglichkeit, weitreichende Folgen zu entwickeln (was freilich durch eine grofse Wirkung in die Breite er- setzt werden kann, in welchem Falle auch die noch ganz nahestehende Personlichkeit schon spezifisch historisch wirkt). So konnen Elemente, zu denen uns die zeitliche Distanz fehlt ~ d. h. die Ubersehbarkeit ihres Folgen- Quantums — alle moglichen Werte und Interessen fur uns besitzen ; aber historisches Interesse haben sie solange nicht, ') Selbstverstandlich wirken auch sie als historisch-interessierende sobald sie als Charakteristika folgenreicher Typen funktionieren oder als Beispiele allgemeinerer Zustande, die notwendige Durchgangspunkte fiir die Gesamtentwicklung sind. - 134 bis jenes Quantam fur unser Bewufstsein den Schwellen- wert der historischen Reaktion erreicht hat. Es liegt hier eine entfernte Analogie mit der Vermutung uber das Wesen der asthetischen Gefuhle vor: dafs sie bei einer gewissen Leichtigkeit und Glatte im Ablauf der assoziierten un- bewufsten Vorstellungen eintreten, namlich einer solchen, die einem sonst unerreichbaren Reichtum derselben in einer relativ kurzen Zeitdauer wirksam zu werden gestattet. Auch bei dem Interesse, das wir das historische nennen, handelt es sich um eine Organisierung des Vorstellungs- raaterials, die mit der einzelnen Vorstellung eine nur auf diesem Wege zu gewinnende Fulle weiterer verbindet. Naturlich ist die Verkniipfungsart und entsprechend die angeregte Gefuhlskategorie eine vollig andere als in dem asthetischen Falle. Aber mindestens dies ist beiden gemein- sam, dafs die einzelne Vorstellung aus ihrer Isolierung heraus an die Spitze eines grofsen Zusammenhanges weiterer, von ihr abhangiger gestellt wird und dafs dadurch eine spezifische Anregung entsteht, die das entsprechende Gebiet als eine eigene Interessenprovinz schafFt und gegen andere abgrenzt. Im ubrigen ist es viel weniger der An- spruch dieser Hypothese, in der Quantitat kausal erkenn- barer Abhangigkeiten die hinreichende objektive Grundlage des subjektiven historischen Interesses festzulegen, als das Problem selbst zu beleuchten, das ich als die historische Schwelle bezeichnete: dafs Ereignisse und Personen, Ver- haltnisse und Organisationen alle moglichen Bedeutungen und Werte besitzen konnen, ohne dadurch historisch inter- essant zu werden; dafs dies vielmehr eine spezifische Gefuhlsreaktion ist, mit der wir auf bestimmte Anordnungen^ Summierungen, Formzusammenhange reagieren , um nun erst auf diese subjektive Bedeutung jener Elemente hin sie zu dem besonderen Gebilde der Geschichte zusammenzu- fassen und zu gestalten. Vielleicht aber schliefst dies noch eine Voraussetzung em, an der der bisherige Gedankengang vortibergefuhrt hat. Ich hatte von zwei vitalen Interessen gesprochen, die als solche uber-theoretischer Art sind, und die das historische Erkennen bestimmen. Ich betonte zuerst das Interesse am Inhalt des Geschehens, das also das gleiche bleibt, auch - 135 wenn dieser Inhalt in anderer Form als der der geschicht- lichen Wirklichkeit gegeben ist. Aus diesem Interesse- begriff entwickelten sich alle bisherigen Bestimmungen, bis zu dem BegrifF einer Schwelle, der eine bestimmte Art und Mafs von Reizung durch Verwebung, Erweiterung, Ran- gierung der gegebenen Elemente fordert, damit das histo- rische Bewufstsein in Funktion trete. AUein alles dies bleibt an den Inhalten der Vorstellungen haften, und wenn es moglich ware, diese ganzen Ereignisse und ihre Ver- kniipfungen uns als ein blofses Spiel vorzufiihren, als ein reines Denken, dem kein Sein entsprache, so wurde ein dem historischen mindestens verwandtes Interesse-Gefuhl sich daran kniipfen. AUein irgendein Element wurde dennoch zu der Vollstandigkeit dieses fehlen, eines, das zu den bis- her beriihrten hinzukommen mufs, um den vollen EfFekt des Historischen zu ergeben und das das zweite der an- gedeuteten Interessen hervorruft. Dieses kann man als das Interesse an der Wirklichkeit als solcher bezeichnen. Unzahliges interessiert die Menschen, nicht weil sein Inhalt wertvoll, bedeutsam, originell ist — sondern weil es da ist, weil es die Form der Wirklichkeit hat, wahrend es als blofser Gedanke, seinem noch so deutlich vorgestellten In- halte nach, keinerlei Teilnahme erweckt. Im Gegen satz zu allem vorher Beobachteten , das auch als Spiel, unter der Kategorie der blofsen Idealitat, uns mit immer gleichen Ge- fiihlen reagieren lafst — verliert vieles andere fur uns so- gleich Bedeutung und Gefiihlswert, sobald wir horen, dafs es „nicht wahr" ist. Die Wirklichkeit ist hier wie ein Lebenssaft, der die blofsen Inhalte der Vorstellungen durch- stromt, so dafs sie, wenn er sie verlafst, als interesse- und wesenlose Schemen zurtickbleiben — so wenig das logisch Ausdriickbare an ihnen ein anderes geworden ist. Wie es sich in der Praxis verhalt: dafs hundert Taler als blofser Gedankeninhalt gar kein Interesse beanspruchen , hundert wirkliche dagegen — obgleich, wie Kant hervorhebt, keinen Pfennig mehr enthaltend — ein sehr lebhaftes, so ist es auch in der Theorie. Vieles, das als Bild und Idee fur uns keinerlei Bedeutung besitzt, gewinnt diese unmittelbar, so- bald es als seiend vorgestellt wird. Die Metaphysik hat bekanntlich dieses Interesse fur das Sein so vollstandig von — 136 — dem fur die Inhalte gesondert, dafs sie den absoluten Wert- gegensatz zwischen beide gelegt hat: das Was der Welt sei verniinftig und so gut wie moglich, ihr Dafs aber sinnlos und verderblich. In Spinoza andrerseits fiihlt man das leiden- schaftliehe und doch beruhigte Gluck iiber die Tatsache des Seins — eben dieses blofsen Seins, an dem jeder In- halt, der immer ein einzelner, besonderer sein mufs, schon als Einengung, als Wesenloses gilt; Hegel zeigt dem Sein gegeniiber die Klihle des Logikers, der es, eben weil es jenseits jedes begrifFlich ausdriickbaren Inhalts steht^ nur als das reine Niehts zu bezeichnen weifs; in Schopenhauer zittert ein Entsetzen iiber dieses dunkle Fatum des Seins, zu dem die Dinge verurteilt sind, und aus dem nur die Flucht in die reine Idealitiit ihres kilnstlerischen Bildes oder in seine Verneinung schlechthin — nicht in die eines ein- zelnen Inhaltes — retten kann. Mit grofserer oder geringerer Deutlichkeit o^enbart sich so allenthalbcn das Interesse, das sich an diese beiden Seiten der gegebenen Werte in ihrer Sonderung kniipft; freilich ist es nur die Abstraktion der Philosophie, die jede dieser spezifischen Interessenstromungen fur sich aufnimmt und reinlich von der anderen scheidet, wahrend die sonstige Theorie und Praxis beide fortwahrend ineinander webt, ohne dafs darum die tiefe Verschiedenheit ihres Sinnes gemindert wtirde. Dieses Interesse am Sein als solchen ist nun^ diesseits seiner metaphysischen Sublimierung und auf die Tatsach- lichkeit eines Inhalts gerichtet, der wesentliche Charakter aller Historik. Hiermit vvird, zur eindeutigen Festlegung derselben, ein Querschnitt durch die Vorstellungswelt gelegt, der im vorigen Kapitel angedeutet, aber noch nicht bis zu Ende gedacht wurde. Der Gegensatz, der dort das Historische vom Naturwissenschaftlichen schied, war der zwischen der individuellen Erscheinung und dem Gesetze. Der zeitlose Zusammenhang des Naturgesetzes , der B schlechthin an A kniipft, hatte sich zu der Bestimmung, ob A ist, unfahig gezeigt. Allein die Existenzfrage trat zuriick gegeniiber dem Inhaltsproblem : die Naturgesetze sind gegen die in- dividuelle Konfiguration vollig indifferent, die sich ihnen gemafs entwickelt. Denkt man sich die Gesamtheit der Naturgesetze als einen ideellen Komplex, so konnte es unter ■ J — 137 — ihrer Herrschaft unzahlige verschiedene Welten geben, un- gefahr wie es unter der Herrschaft der gleichen biirger- lichen Gesetze sehr viele verschiedene Gruppen geben kann. Ist diese bestimmte Erscheinung einmal da, so entscheiden freilich jene Gesetze iiber ihre Weiterentwicklung ; sie stehen aber von sich aus nicht nur der Tatsache fern, dafs diese bestimmte ist, sondern auch der, dafs sie diese be- stimmte ist. Stande eine anders qualifizierte an der gleichen Raum-Zeit-Stelle , so wiirden aus jenem Komplex heraus eben andere Gesetze an dieser Stelle in Wirksam- keit treten, ohne dafs der Komplex selbst in seinem In- halt und seiner Giiltigkeit im geringsten beriihrt wurde. Von seiner absoluten Allgemeinheit, die nur ein Name fur seine Zeitlosigkeit ist, hebt sich also die einzelne Gestaltung ab, die von sich aus durch ihre Qualitaten bestimmt, welch e Gesetze fur sie zu gelten haben. Die Feststellung dieses Individuellen ^ erschien uns als die Aufgabe der Historik, im Gegensatz zu der der Naturwissenschaft: fur diese steht das Gesetz, fiir jene der Fall des Gesetzes in Frage; und zwar nicht so, dafs derselbe ein Mittel und Material sei, um auf induktivem oder anderem Wege in die Erkenntnis des Gesetzes zu miinden. Sondern gerade und nur als einzelner steht er im Zentrum des historischen Interesses; und, umgekehrt wie in der Naturwissenschaft, ist das Wissen um die Gesetze nur das Mittel, die be- sondere Komplikation und Einheit, an der sie gultig sind, zu analysieren und zu verifizieren. Naturwissensckaft und Historik, die Auffassung des Gegebenen nach seiner Gesetz- lichkeit oder nach seiner fur sich bedeutsamen Sondergestalt, erscheinen so als zwei Zerlegungskategorien des Einheitlich- Wirklichen, das in seiner Unmittelbarkeit und Ungebrochen- heit zu erfassen uns das Organ fehlt. Allein diese polaren Gegensatze, in die das Weltbild fiir uns komplementar aus- einandergeht, zeigen sich von dem jetzt gewonnenen Stand- 1) Um Mifsverstandnissen zu begegnen: die historische Indivi- dualitat in diesem blofs methodischen Sinn bedeutet natiirlich keines- wegs nur Einzelpersonen, sondern einzelne, qualitativ charakterisierte Sondergebilde iiberhaupt, also Gruppen und Situationen, Zustande und Gesamtentwicklungen ebenso wie das Sein und Werden des Personlichen. \ — 138 — punkt als die beiden Telle einer Auffassungsmoglichkeit: sie gehoren beide in die Kategorie des In halts der Dinge. Das Interesse an der Besehaffenhei t des Welt- laufes tragt beide. Gewifs ist es die seiende Welt, die wir mit beidem suehen ; aber die in der Wirklichkeit immer zusammenwirkenden Stromungen darf die logische und psychologische Analyse seheiden. Gewifs konnte ich hervor- heben, dafs uns manches als Seiendes interessiert, dessen blofse Idee uns gleichgultig lafst; allein dies kann uber unsere theoretischen Bestrebungen nicht allein entscheiden, weil uns sonst alles Seiende gleichmafsig interessieren wiirde ; die Auswahl dessen, was wir innerhalb der Unermefslichkeit der Objekte erkennen wollen, erfolgt nach dem Interesse an ihrem Inhalt, das also prinzipiell von der Frage nach ihrem Sein oder Nicht-Sein unabhangig sein mufs. Indem wir also die Gegenstande, deren Gesetzlichkeit oder deren einmalig-individuelle Erscheinung wir erforschen, aus jener Unermefslichkeit herausheben, zeigt sich die Zusammen- gehorigkeit dieser beiden Fragestellungen unter der gemein- samen Kategorie des Inhalts-Interesses, dem nun das Seins- Interesse, als ein neues Element innerhalb des historischen Erkennens, gegeniibertritt. Und daraus ergibt sich eine neue Bestimmung des Sinnes der Historik, soweit sie von ubertheoretischen Interessen — die eben die Theorie begrunden — getragen wird. Es gibt vielerlei Tatsachen der Wirklichkeit, die als solche ein ihren Inhalten allein vorenthaltenes Interesse er- regen. Die Bedeutung alles dessen, was wir Aktualitat nennen, ist vielfach keine andere. Das Gegenwartige, auch wenn es uns personlich absolut nicht beruhrt und beriihren kann, erregt unsere Teilnahme durch sein starkes Mafs von Wirklichkeit, wahrend das Vergangene, und gar das Zu- kiinftige, sozusagen an Wirklichkeit verliert; seine Realitat scheint uns weniger sicher, es hat kein so unmittelbares, greif bares Sein. Dieses Interesse am Sein, das auch dem inhaltlich Indifferenten gewidmet wird, reicht trotz seiner schon angedeuteten Bedeutung fur das historische Interesse dennoch zu dessen Erzeugung nicht aus. Es ist keineswegs alles Wirkliche historisch wichtig; und zwar nicht nur, weil, wenn dies der Fall ware, die fur uns erkennbaren Teile dieser — 139 wichtigen Wirklichkeit so verschwindend gering, so zufallig verstreut, so hoffnungslos fragmentarisch waren, dafs „Ge- schichte" als ein kindisches Unternehmen erscheinen miifste : der quantitative Abstand von ihrem Ideal, die Gesamtheit des historisch Wichtigen zu wissen, ware beim Zusammen- fall des letzteren mit dem Wirklichen uberhaupt ein so un- ermefslicher , dafs es nicht das Beginnen lohnte. Sondern ganz positive Interessiertheit, die sich an gewisse Inhalte der Wirklichkeitsbilder knupft, gewisse andere draufsen lafst, mufs sich mit dem Seinsinteresse verbinden, um aus dem unendlichen Inhalte dieses das Historisch-Wichtige aus- zusondern. Fur sich allein aber, ohne dafs die Seinskategorie wirksam wurde, geniigt auch das Inhaltsinteresse nicht ; viele Dinge erregen uns schon als blofse Ideen ; in ethischer oder kiinstlerischer, in sinnlicher oder logischer Beziehung — aber die historische Sphare beriihren sie insoweit nicht. Auch hier wird das Interesse oft lebhafter sein oder erst entstehen, wenn der Gegenstand der Vorstellung existiert, aber es ist in seinem Wesen nicht an diese Existenz ge- bunden. Wohl aber das des historischen Interesses. Das Erhebendste oder Abscheulichste, das als blofser Gedanke, im Bilde, als Moglichkeit der Praxis die hochste Bedeutsam- keit besitzt, rlihrt nicht an die spezifische historische Inter- essensphare, sobald es nicht wir kl ich ist — gerade wie das Wirklichste es nicht tut, wenn es nicht zugleich seinem Inhalt nach eine bestimmte Bedeutsamkeit besitzt. Damit wird die Schwelle des historischen Bewufstseins aufs neue bestimmt. Sie liegt da, wo das Bewufstsein des Seins sich mit dem der Inhaltsbedeutungen gleichsam schneidet. Diese Inhaltsbedeutungen haben fur sich eine besondere Schwelle, uber die ich oben die Vermutung ihres Bestimmtseins durch das Folgenquantum aufserte. Wo dieses zusammenschlagt, entsteht die spezifische Interessiertheit fur die Tatsachlich- keit gewisser ausgewahlter Reihen vonEreignissen, Personen, Zustanden, die die Historik begriindet. Und nun bedarf es nur noch einer weiteren Abgrenzung gegen das Natur-Erkennen, insoweit auch dieses von einem Interesse an der Tats^chlichkeit und an der Bedeutung seines Inhaltes ausgeht. Der Unterschied diirfte der sein, dafs der Natur gegeniiber das BedeutungsgefUhl, genau an- — 140 — gesehen, nicht dem Gegenstand, sondern dem Erkennen des Oegenstandes gilt, dafs dagegen die Bedeutung, die wir die historische nennen, an dem Objekte selbst haftet. Ein so starkes Interesse wir an der Struktur der chemischen Elemente oder an den Beziehungen von Licht und Elek- trizitat, an der Entstehung der Organismen oder an der Zusammepsetzung der atmospharischen Luft nehmen mogen — so wissen wir doch, dafs diese fur uns so aufregend ratselhaften und komplizierten Phanomene an sich derselben dnfachen und gleicbgiiltigen Gesetzmafsigkeit gehoreben, wie die Bewegung eines Mobels, das wir scbieben, oder der Druck irgend einer Substanz auf ibre Unterlage. Wenn wir die Natur als objektives Ganzes ubersehen, obne Ruck- sicht auf die sehr mannigfaltigen Verbaltnisse unserer Er- kenntnis und Erkenntnisfabigkeit zu ibr, so feblen ibr vollig jene Wesensunterscbiede ibrer Elemente, an die allein unsere an Unterscbiede gebundene Gefiiblsweise ein Interesse knlipfen konnte. Es ist immer und Uberall der gleicbe, jenseits alles spezifiscben Sinnes und Wertes stebende Gang der Energieverwandlungen und StofFumlagerungen. Nur dafs wir mancbes davon seit lange, vieles seit kurzem, das meiste nocb gar nicbt wissen, dafs einiges sicb der Art unseres Erkennens leicbt, anderes sebwer erscbliefst, dafs unsere Kategorien und Syntbesen die Erscbeinungen in €infacbe und komplizierte trennen — dies allein gliedert den eintonigen Ablauf des Naturgescbebens in Wesentlicbes und Unwesentlicbes, Interessierendes und Unbedeutendes. Dafs das difiPerente Verbalten unseres Erkennens das* Interesse an dem Natiirlicben versebieden verteilt, das ist der Geburtsakt des Interesses an dem singdaren naturwissenscbaftlieben Problem - da es innerbalb der Objektivitat der Dinge keine Unterscbiede gibt, die ein solcbes in uns erzeugen konnten. Dagegen, innerbalb der bistoriseben Kategorien liegen Bedeutungsuntersebiede in dem Wesen der Erscbeinungen selbst. Je tiefer wir in die Natur eindnngen und je mebr die DifFerenzen der Distanz zwiscben ihr und unserem Erkenntnisvermogen sicb nivellieren, um so unindividueller, um so mebr durcb die „Gleicbbeit vor dem Gesetz" beberrscbt, stebt sie vor uns; denn die Be- sonderbeit ibrer Erscbeinungen, die deren genauere Be- — 141 — tracbtung freilicb ergibt, betrifFt nur ibre Form, nur die Komplikation des Allgemeinen zu ibnen, aber nicbt ihr innerstes Prinzip, das vielmebr bei der Umsetzbarkeit der Energien und der Wanderung der Stoffe fur alle das gleicbe ist. Je tiefer dagegen die Erscbeinungen, die wir historisch nennen, sicb uns erscbliefsen, desto bedeutsamer wird uns ibre Individualitat, desto naber gelangen wir an den gebeimnisvoUen Punkt, aus dem die Gesamtqualitat der Personlicbkeit wie eine in sicb gescblossene , dem ganzen sonstigen Dasein gegeniiber selbstandige Welt bervorgebt. Gewifs alternieren die Spbaren des Allgemeinen und des Besonderen ebenso auf dem natiirlicben wie auf dem bistoriseben Gebiet, d. b. es ist die Aufgabe, binter jeder entdeckten Allgemeinbeit durcb feinere Analyse die in- dividuelle DiiFerenziertbeit aufzufinden und jede solcbe wiederum in allgemeine Gesetze und Typen aufzulosen und so beide Prinzipien sicb als beuristiscbe gegenseitig ab- losen zu lassen. Allein diese Gleicbbeit des Weges gebt docb auf entgegengesetzte Ziele: gewissen Erscbeinungen gegeniiber findet er an dem Allgemeinen, anderen gegeniiber am Besonderen seine Endstation, gleicbviel ob sie erreicbbar ist oder im Unendlicben liegt. Durcb diese Verscbiedenbeit der definitiven Tendenz scbeiden sicb die Wege, trotz der vielfacben Gleicbbeit jenes Rbytbmus, in den natur- wissenscbaftlieben und den bistoriseben. Das Bedeutungs- gefiibl, obne das wir an keinen Vorstellungsinbalt die Mube des Erkennens wenden wiirden, findet an den Naturobjekten unmittelbar kein Gegenbild. Die Natur mag uns als Ganzes metapbysiscb oder gefublsmafsig interessieren ; aber ibre einzelnen, in ibrem letzten Wesen vollig ununterscbiedenen Telle konnen dies zwar astbetisch, durcb die Unter- scbiedenbeit ibrer anscbaulicben Form, wissenscbaftlicb jedocb nur durcb die Distanz, in die uns die Zufalligkeit und Vorlaufigkeit unseres unvollkomraenen Erkennens zu ibnen stellt und deren Mannigfaltigkeit die monotone Einbeit ibres objektiven Wesens fiir unsere Unterscbiedsempfindlicb- keit iiberdeckt. Die Inbaltsbedeutungen aber, die fiir uns das Interesse der Historik motivierten, bafteten an deren Objekten selbst, sie erregen unser Interesse, weil diese in ibrem eigensten und inneren Sein mannigfaltig und rangiert ! ■ l^ ■l ■L w ^pll^1'JJ | l| iB » l» l « « l «w >' mfbm.. — 142 — sind. Und hiermit zeichnet sich zugleich der Unterschied des historischen Interesses gegen das psychologische. Denn jenes hat seiende Objekte, an denen also eine Bedeutung unmittelbar haften kann, in der Psychologie aber handelt es sich um Abstraktionen, um die Feststellung von gesetzlichen oder den gesetzliehen analogen Relationen, die uberall gelten , wo ihre Bedingungen gegeben sind, selbst wenn dies in der Wirklichkeit nur ein einziges Mai ge- schahe. Wo eine psychologische Realitat erortert wird, ist es die Anwendung zeitlos psychologischer Zusamraenhange auf historisch Gegebenes, aber nicht mehr blofse Psychologic. Die eigene und differentielle Bedeutung, die, alleni Personlich- Seelischen eigen, den Unterschied des geschichtlichen Interesses gegen das naturwissenschaftliche stiftet, wirft jenes nun doch nicht mit dem wissenschaftlich-psychologischen Interesse zusammen. Hier wird die Grenze durch die Seins-Tatsache gezogen, die die Historik von der abstrakten Zeitlosigkeit der Psychologic ebenso trennt, wie die Be- deutungs-Tatsache sic von der Naturwissenschaft geschieden hatte. Dies also sind die allgemeinen ubertheoretischen Interessen, deren Ineinander-Verwachsen das theoretische Interesse an der Historik erzeugt. Es sind nicht die apriorischen Voraussetzungen, die, im Sinne des Kantischen Apriori und seiner fruher besprochenen Abstufungen, der Wissenschaft immanent sind, die ihren inneren Bau be- stimmen. Sie umfassen sie vielraehr wie das Erdreich die Wurzel der Pflanze, die zwar ihre Bildungsgesetze rein in sich bewahrt, aber die ganze Kraft und Moglichkeit, ihr Leben diesen gemafs zu leben, doch jenem tragenden und in sie eingehenden Boden verdankt. Dafs Geschichte fur uns uberhaupt einen Sinn hat — ihrem Sachgehalte wie dessen Erforschtwerden nach — ist daran gebunden, dafs der Inhalt des Weltlaufs und die Tatsache seiner Wirklich- keit zwei Interessenstrome entfesseln, die, gleichsam unter einem bestimmten Winkel zusammenfliefsend, nun einen ein- zigen bilden. Und wie dies als Fundament unterhalb der Historik liegt, ohne in ihren Gang im einzelnen einzugreifen, so wachst es als Metaphysik uber sie hinaus, und bewahrt dabei dieselbe Reserve, oder sollte sie wenigstens bewahren. i , Vi » — 143 — Was es uns prinzipiell moglich macht, Geschichte zu treiben : dafs in dem Chaos der Ereignisse und ihrer tJberlieferung uberhaupt ein Sinn auffindbar ist, den Begriffe ausdriicken konnen — ohne welches auch die realistischste und de- skriptivste Historik undenkbar ware und der keineswegs mit atavistischer Teleologie zusammenfallt — ; dafs mindestens in abgegrenzten Perioden Fortschritt, oder eine Balance auf bauender und zerstorender Krafte, oder ein Herabsinken aller Werte besteht; dafs die unbewufst und scheinbar aus tausend differenten Motiven wirkenden Krafte der Individuen schliefslich zu wesentlichen Resultaten, zu einer Erfolgs- einheit zusammengehen ; dafs die Existenz dieses ganzen Spieles einen Wert oder sein Gegenteil hat — alles dies, herausgelost aus seiner RoUe als Interessen-Voraussetzung fur den Aufbau historischen Wissens, und uber dieses hinaus vervollstandigt und vereinheitlicht , ergibt die Metaphysik der Geschichte. Die einzelne Metaphysik hebt einen einzelnen dieser Interessenpunkte heraus und lafst ihn zu dem absoluten Sinne der ganzen historischen Realitat kristallisieren. So sehr dies ein nur sich selbst gentigendes Spiel der Phantasie sein mag — sein tieferer Rechtsgrund liegt doch darin, dafs die Wurzeln dieser Metaphysik die Interessen sind, ohne die es zu einer Historik als Erkenntnis des Geschehenen nie kommen wiirde, und die nun, diesen auf ihnen ruhenden Bau uberwachsend, oberhalb seiner sich ins Transszendente heben. Es ist ein Fall jener typischen Form el des Geistigen : dafs die Seele gerade dasjenige, was am tiefsten in ihrem Eigenwesen wurzelt, am weitesten aus sich heraus zu projizieren liebt. Das Objektive liegt fiir sie gleichsam in einer mittleren Distanz; aber ihr Inner- lichstes, das sich in den subjektivsten Schichten der Seele erzeugt, streckt sie von sich, in ein Absolutes, Uber- Objektives, als fande sie erst durch diesen Sprung in das andere Extrem das Gleichgewicht wieder oder die Be- freiung von dem allzuengen Beisichsein der Subjektivitat^). ^) Hier tritt der Problemutnfang der Geschichtsphilosophie deutlich hervor. Die Philosophie jedes Gebietes liegt einerseits unterhalb , andrerseits oberhalb der exakten Wissenschaft von dem- selben. Sie erforscht die Voraussetzungen und Normen, welche das I — 144 — Diese Interessen, deren Inhalte in intellektueller Sub- limierung den raetaphysischen Sinn der Geschichte ergibt, sind nun in Wirklichkeit kein nivellierter Baugrund, der auf die exakte, iiber ihm errichtete Historik ohne spezifischen Einflufs bliebe. Vielmehr, neben der generellen Interessiert- heit, ohne die es prinzipiell keine exakte Geschichte gibt, und der reinen Metaphysik finden sich in dem Bau jener allenthalben besondere, alles konkrete Wissen Uberschreitende Voraussetzungen ; nicht jene apriorischen , die Geschichte ihrer inneren Form nach moglich machen, sondern sinn- gebende, die ihre Erkenntnis fur uns lohnen. Der Katur gegenuber bleiben diese — die Kant Ideen der Vernunft nennt — als Spekulation jenseits des Tatsachenbildes ; die Geschichte aber wird von ihnen durchflochten. Schon ob man das Gewicht der historischen Forschung auf Urkunden- publikationen oder auf zusammenfassende Darstellungen legt, ob auf Querschnitte durch getrennte Erscheinungs- komplexe oder auf Reihen, in denen sich ein einheitlicher Keim entwickelt — dies sind keineswegs blofse Fragen der Methoden, der Mittel und der Form; sondern indem sie dies sind, zeigen sie zugleich bestimmte Meinungen und Gesinnungen uber Wesen und Bedeutung der historischen Tatsachen selbst, trotzdem sie deren unmittelbaren materiellen Inhalt nicht modifizieren. Statt all diesen formenden, uber- theoretischen und metaphysischen Voraussetzungen mit ab- strakter Systematik nachzugehen, will ich, zum Abschlufs dieser Untersuchungen , die Bestimmung des historischen exakte Erkenn en fundamentieren und leiten: die Bedingungen, welche es erst „moglich machen" und deshalb in ihm selbst keine Stelle finden; und sie ergiinzt zweitens die immer rudimentaren Inhalte des positiven Wissens zu begrifflicher VoUendung, verfolgt die in der empirischen Wirklichkeit immer verworrenen und abgerissenen Faden uber diese hinaus, bis sie sich zu einem geschlossenen Denkbild des Seins zusammenweben. Sowohl die erkenntnistheoretische wie die metaphysische Aufgabe zentrieren ersichtlich in der Suveranitat des Geistes gegenuber seiner Erfullung durch das gegebene Weltmaterial, von der die exakte Wissenschaft abhangt. Aus diesem Zusammen- hang heraus mag es geschehen, dafs so haufig gerade die apriorischen, erfahrung-bedingenden Begriffe wieder fur das metaphysische Ge- webe den Zettel bilden, an dem sich die fragmentarischen Welt- und Lebensinhalte als Einschlag in das Absolute hinaufspinnen. ¥ ^ — 145 — Bildes durch sie an der Struktur zweier ganz verschiedener Probleme aufzeigen. Das eine derselben betriiFt den Fortschritt in der Ge- schichte. Es ist zunachst klar, dafs der Begriff des Fort- schritts einen Endzustand voraussetzt, der in seiner Ab- solutheit ideell vorhanden sein mufs, damit die Annaherung an ihn oder sein hoheres Verwirklichungsmafs den spateren Zustand als den relativ fortgeschrittenen charakterisiere. Wenn wir in der Geschichte etwa eine Abwechslung zwischen Epochen mehr individualistischen und solchen mehr kollektivistischen Charakters beraerken, so wird der eine die ersteren als die eigentlich fortschreitenden an- sehen, zwischen welche sich die letzteren nur als gelegent: liche Hemmnisse und von jedem Fortschritt unzertrennliche Ruckschlage einschieben, wahrend ein anderer die Deutung direkt umdreht, weil ihm die kollektive Gestaltung der Gesellschaft als ihre eigentlich wertvoUe erscheint, und er ihren naturlichen Gang nur insoweit als Fortschritt an- erkennt, als er sich in der Richtung auf diese bewegt. Ob wir also in der Geschichte einen Fortschritt sehen oder nicht, hangt von einem Ideal ab, dessen Wert als solches nicht aus jener Reihenfolge der Tatsachen hervorgeht, sondern unvermeidlich durch die Subjektivitat zu ihr hinzu- gebracht wird. Man konnte etwa die Moglichkeit eines formalen, d. h. von keinem inhaltsbestimmten Endzweck abhangigen Fortschrittes diskutieren, — wie Kant eine formale Moral feststellen wollte, gleichsam ein Schema der Moral llberhaupt, das je nach den Umstanden mit dem verschiedenartigsten Inhalt gefullt werden kann. Dies ware dann der allgemeine BegrifF, der zum Inhalt hatte, was all den verschiedenen Fortschrittsreihen — zur Steigerung wie zur Vernichtung des Lebens, zur Intellektualisierung wie zur Moralisierung der Seelen, zu sozialistischen wie zu in- dividualistischen Zustanden — gemeinsam ware. Unter dieser Voraussetzung konnte man, wo die Ereignisse die fragliche Form aufweisen, von Fortschritt im objektiven Sinne sprechen, auch wo die materialen Entgegengesetzthelten der subjektiven Wertsetzungen ihn nur alternierenderweise anerkennen; gerade wie man, wo guter Wille und Pflicht- bewufstsein den handelnden Menschen bestimmt, ihm Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. JQ t I — 146 — 147 — Moralitat zuspricht, auch wenn er inhaltlich das Gegenteil von dem getan hat, was man fiir seine Pflicht halt. AUein dies ist logisch nicht angSngig. In der morah'schen Frage bestehen zwei logisch und psychologisch trennbare Elemente : die Gesinnung, als terminus a quo des Handelns, und der sachliche Zweck — so dafs der Wert einer und der- selben Handlung widerspruchslos flir das eine bejaht, fiir das andere verneint werden kann. Fiir die beiden Bestand- teile des Fortschrittes aber: dafs einerseits iiberhaupt eine Veranderung stattfindet, andrerseits der spatere Moment derselben wertvoller sei als der friihere — liegt es anders. Der letztere ist absolut variabel, der BegrifF des Wertes enthalt kein allgemeines Element, das unabhangig von der subjektiv auswahlenden Wertsetzung anwendbar ware. Die Veranderung aber, die wirklich das Allgemeine an alien Fortschritten ist, kann doch nicht fiir sich schon seinen Begriflf anwenden lassen, da sie ebenso das Allgemeine an alien Riickschritten ist. Man miifste denn — was freilich in Ansatzen auch vorkommt — schon die Tatsache der Veranderung als solche und gleichgiiltig gegen jedes eventuelle Ziel derselben als Fortschritt empfinden; auch an dem Riickschritt sei immerhin dies, dafs er Veranderung ist, ein Fortschritt, so sehr derselbe durch die Schlechtigkeit seines Inhaltes den Wert der Gesamtaktion herunterdriicke. Der Gegensatz zum Fortschritt sei nicht der Riickschritt, sondern der Stillstand — etwa eine geschichtsphilosophische Wendung der Fichteschen Erklarung der Tragheit fiir das Radikal-Bose. Genau betrachtet aber ist dies entweder doch wieder eine subjektive Wertsetzung oder ein meta- physischer Glaube. Denn die blofse Bewegtheit und Ver- anderung wird das Epitheton des Fortschritts nicht ihrem logisch-begrifflichen Sinne nach erwerben konnen, sondern erst wenn man sie iiber diesen hinaus als etwas Wertvolles empfindet — was allerdings eventuell ohne Riicksicht auf den durch sie realisierten In halt geschehen mag. Da nun aber gewisse konservative Gesinnungen , ohne gegen die Logik zu verstofsen, die Veranderung an und fiir sich schon fiir etwas Unterwertiges , Boses halten — so folgt, dafs dem Veranderungsbegriff logisch dasjenige Element fehlt, das ihn zum Aquivalent eines allgemeinen, formalen 6 FortschrittsbegrifFes machen wiirde, und dafs er dies nur durch eine, wiederum auf die individuelle Subjektivitat angewiesene Wertsetzung werden kann. Diese konnte man nun andrerseits, fiir die Struktur des Fortschrittsbegriffs bezeichnend genug, durch eine metaphysische Konstruktion ersetzen. Die Veranderung ist vielleicht deshalb ohne weiteres ein Fortschritt, weil am Ende aller Dinge, oder auch pro rata durch alles Werden hin verteilt, ein absolut wertvolles, definitives Ziel steht. Erkennbar ist dies fur uns nicht, nicht sein Was, sondern nur sein Dafs ist sicher. Diesen Typus reprasentiert ebenso ein gewisser chiliastisch- religioser Glaube wie ein liberalistischer Optimismus. Auf der Basis desselben kann allerdings jede Veranderung als solche ein Fortschritt sein, mag sie, an den uns zugangigen Werten gemessen, auch einen Riickschritt darstellen — innerhalb des Weltprozesses als Ganzen ist das nicht moglich, sondern fiir diesen gibt es nur Retardierungen in Form des Still- stands. Hier ist man also iiber die Subjektivitat des Wert- begriffes, wie sie in der Verschiedenheit seiner inhaltlichen Erfiillung liegt, hinaus, und durch seine Verlegung ins Ab- solute und gleichzeitige Anonymitat kann er jegliche Ver- anderung logisch als Fortschritt emplinden lassen. Diese, wie mir scheint, einzige Moglichkeit, von einem formalen, von der Individualisiertheit der Wertsetzungen unabhangigen Fortschrittsbegriff zu sprechen, macht deutlich, wie weit man iiber die Tatsachen, die den Fortschritt enthalten soUen, hinausgehen mufs, um ihn in ihnen zu sehen. Neben der Subjektivitat oder Transszendenz des Ideals, an dem sich die tatsachliche Bewegung der Geschichte als Fortschritt zeigt, steht eine andere, welche die Fortschritts- frage in den tiefer gelegenen Teilen ihrer Struktur beriihrt. Hat man sich namlich auch schon iiber jenes Ideal geeinigt, so hangt es fernerhin noch von einer durchaus labilen BegrifFsdefinition ab, ob wir dessen empirische Realisie- rungen als Fortschritt bezeichnen diirfen. Es ware namlich moglich, dafs die wertvollen Punkte der Geschichte gleich- sam in einer generatio aequivoca entstiinden; es brauchte keine allmahliche auf sie hin gerichtete Entwicklung statt- zufinden, sondern entweder konnten die natiirlichen Krafte eine jenen Idealen entsprechende Gestaltung ebenso zufallig 10* • 1^ - 148 - in einem Augenblick produzieren, wie sie im nachsten eine voUig entgegengesetzte erstehen lassen ; oder die Realisierung der Werte brauchte tiberhaupt nicht aus den Kraften, deren eigene Entwicklung die Geschichte hervorbringt , sondern konnte durch Eingreifen eines Transszendenten entspringen, wie es etwa religiose Weltanschauungen in dem Erscheinen der Heilande oder in der Vorstellung vom jungsten Tage lehren. In diesen beiden Fallen scheinen wir von Fort- schritt in der Geschichte nicht sprechen zu konnen. Ins- besondere in Hinsicht auf den ersteren ist dies vielmehr erst dann moglich , wenn der wertvolle Zustand , den sie verwirklicht, den Charakter eines irgendwie definitiven tragt. Es mufs irgendeine Garantie vorhanden sein, zwar nicht dafiir, dafs nicht Gegenbewegungen und Stagnationen den geschichtlichen Fortschritt zeitweise auf hielten und umbogen, wohl aber dafiir, dafs die Realisierung des Wertvollen so- zusagen das letzte Wort behalt, und dafs die Wirklichkeit nicht einem Mechanismus gehorcht, der liber diese Reali- sierung ebenso gleichgultig hinweggeht, wie er sie hervor- gebracht hat^). Die blofse Tatsache, dafs es vorschreitende Epochen gibt, wie sie sich nach Konstituierung eines Ideals zeigt, erfiillt noch nicht den Begriff des „Fortschritts in der Ge- schichte". Es mufs vielmehr ein innerer Zusammenhang der zeitlich getrennten Teilrealisierungen des Ideals an- genommen werden, derart, dafs trotz ihres Unterbrochen- seins und durch die andersgerichteten Epochen hindurch, die eine sich da anschliefst und von da aus hoher ftihrt, wo die andere aufgehort hat. Eine gewissermafsen unter- irdische Verbindung zwischen den durch ihr positives Ver- haltnis zum Ideal charakterisierten Perioden wird voraus- m *) Selbstverstandlich aber wird der fragliche Fortschritt in der Geschichte nicht dadurch ausgeschlossen, dafs dasMenschengeschlecht vielleicht einst vernichtet wird, und die kosmischen Krafte, die in der Form desselben die Geschichte produziert haben, zu ganz heterogenen Ausdrucksweisen ubergehen. Der Fortschritt, um den es sich handelt, ist nur ein Fortschritt innerhalb der Geschichte und seine Aufgipfelung zu einem definitiven Ziele wird dadurch nicht illusorisch, dafs die Geschichte als Gauzes nicht den Charakter des Definitiven besitzt. 9 - 149 — gesetzt, wenn man behauptet, dafs es einen Fortschritt in der Geschichte gebe; und dem Verbundensein jener mufs eine Kraft zugrunde liegen, die uber jede ihrer bisherigen Wirkungen oder Erscheinungen hinausreicht und es gewahr- leistet, dafs der Mechanismus des Geschehens tiberhaupt und kunftig trotz aller Abbiegungen doch der Hauptsache nach in der Richtung jenes Ideals verlaufe. Die Behauptung, dafs die Geschichte einen Fortschritt darstelle, schliefst mit einem Wort das Verhaltnis der blofsen Zufalligkeit aus, das sonst zwischen den realen, mechanischen Kraften und unseren Idealvorstellungen besteht. Dafs die ersteren gelegentlich die letzteren verwirklichen, genugt jener Behauptung nicht ; sondern die so entstehenden , sich aufgipfelnden Vorgange oder Epochen bilden ihr gemafs eine Einheit der Ent- wicklung, derart, dafs das Bild und das Verstandnis der spateren nicht mit der Erkenntnis der unmittelbar vorher- gehenden aufserlichen Situation und ihrer Spannkrafte, sondern erst durch ihr Verhaltnis zu der — vielleicht gar nicht unmittelbar — vorhergehenden Realisierungsstufe des Endwertes der Geschichte aufgeschlossen wird. Noch in einer anderen Richtung verwebt der Fortschritts- begriff den metaphysischen Einschlag in die Kette des aufseren Geschehens. Er setzt namlich weiterhin voraus dafs das Wesen, von dem man ihn aussagt, ein einheitliches sei. Eine Anzahl von Vorgangen, deren Inhalt eine auf- steigende Richtung nach einem Ideal hin zeigt, erscheint uns dennoch nicht als Fortschritt, sobald sie an getrennten Sub- stanzen vor sich gehen. Wenn wir von dem Fortschritt in der Natur sprechen, der von den niedrigsten Organismen zu immer hoheren und hoheren Arten fuhre, so denken wir uns dabei, freilich oft unklar genug, ein Etwas, das sich durch die aufsteigenden Formen hindurch entwickelt, einen Zusammenhang an einem Subjekte — „die Natur" oder „das organische Leben" oder ahnl. — , das eben das fort- schreitende ist, indem es die Reihe dieser Zustande durch- lauft. Schon der sprachliche Ausdruck braucht die Einheit des Subjekts, um das Fortschreiten von ihm auszusagen, und wir wurden diesen Begriff nicht anwenden, wenn es sich zwar um aufeinander folgende und immer wertvollere Zustande handelte, die aber auf verschiedenen Sternen ver- I I — 150 — wirklicht sind — es sei denn, dafs wir etwa einen Zu- sammenhang dieser auseinanderliegenden Werte in emem Weltgeist oder einem Naturinbegriff voraussetzten. Ent- sprechend hat nun auch der Fortschritt in der Geschichte die Einheit des Subjekts, an dem er sich vollzieht, zur Voraussetzung. Anderenfalls konnte man wohl sagen, der eine Zustand sei besser und wertvoUer als der andere, aber nicht, er sei der fortgeschrittene, weil hierzu eine wirkliche Beziehung dieses auf jenen gehort, die doch nur zwischen Zustanden ebendesselben Subjektes statttindet. Nur die Entwicklung dessen, was man den objektiven Geist nennt, konnte zur Konstatierung einer Ausnahme verleiten. Die sachlich vorliegenden Resultate der geschicht- liehen Arbeit: Rechtssatze und Kunstwerke, technische Er- rungenschaften und kirehliche Dogmen, Verkehrssitten und wissenschaftliehe Erkenntnisse - bilden Reihen, in denen wir einen Fortschritt feststellen ; und zwar nicht nur so, dafs sie den Fortschritt der produzierenden Gruppe markieren oder ausmachen. Sondern vermoge einer ge- wissen methodischen Abstraktion betrachten wir diese Sachgehalte des sich entfaltenden Gruppenlebens als rein objektive Entwicklungen , in denen ein Glied seiner sach- lichen Bedeutung nach und ganz ohne Rucksicht auf seine Produzenten oder Trager dem andern gegenuber einen Fort- schritt darstellt. Das Recht und die Kunst, die Technik und die Wissenschaft schlechthin entwickelt „sich". Damit aber kreiert zunachst der Sprachgebrauch ein ideelles Subjekt, an dem die diskontinuierlich nebeneinanderstehenden Kunst- werke, oder die ebenso ohne eiiiheitlichen Trager auf- tauchenden Erkenntnisse usw. als seine Entwicklungen hafteten. Will man nun diese rein auf ihren objektiven Inhalt angesehenen Dinge, wenn sie in ihrer Zeitfolge eine sachlich-logisch aufsteigende Reihe ergeben, als eine historische Entwicklung charakterisieren, so fordern unsere Erkenntnisbedingungen als das Apriori derselben ein ein- heitliches Subjekt, das zwischen jenen atomistisch existierenden Momenten perennierte und diese erst so zu einer Ent- wicklung zusammenbrachte. Aber auch jene blois sach- liche Hoherfuhrung , jene Entwicklung im unhistorisch- unpersonlichen Sinne wurde nicht als solche bestehen i 5 — 151 — konnen, wenn sie nicht als Entwicklung einer ideellen Seele — sei es einer personlich-psychologischen, sei es einer blofs rationalen — gedacht wiirde. Z. B. die Stadien der Phi- losophic, die Brentano fiir deren Geschichte konstruiert hat, bilden eine Entwicklung, insofern man das Gefuhl hat, dais eine dieser Tendenzen psychologisch aus der andern hervorgehen kann. Jener ideelle Trager, den der Ausdruck: die Philosophic entwickle sich — symbolisiert, erscheint so als die Projektion des vom Subjekt nach- gefuhlten Aufsteigens, der inneren, kontinuierlichen Bewegung, die dieses in dem Vorstellen jener Inhalte erlebt und deren wachsende Intensitat und Wertbegleitung die Zeitreihe der Ereignisse erst als Entwicklung bezeichnen lafst. Also selbst dem objektiven Geist gegenuber, wo eine ohne hinzugedachtes Subjekt geschehende Entwicklung noch die meisten Chancen hat, kommt sie nicht ohne dieses aus. Um so mehr bedarf es eines einheitlichen Subjektes, wo die konkrete Gesamtheit der geschichtlichen Bewegungen in Frage steht. Wenn nun uberhaupt schon jede Projizierung verschiedener Eigenschaften auf eine einheitliche Substanz als ihren Trager anerkanntermafsen transszendentalen Wesens ist, so ist die Zusammenfassung der Volker und Individuen zu einem sich entwickelnden Ganzen, wie „der Fortschritt in der Geschichte" es fordert, erst recht eine subjektive Synthesis, die durch ihre Projizierung in die objektive Realitat hinein metaphysischen Charakter erhalt. Dafs durch den Wechsel der Personen hindurch sich ein einheitliches Subjekt erhalt, dafs ein urspriinglicher Keim vorhanden ist, als dessen Entwicklungen sich die I]pochen der Menschheitsgeschichte ergeben und in dem sie jenen Beziehungspunkt iinden, der sie gegenseitig als fort- geschrittene oder zuriickgebliebene bezeichnen lafst — das ist eine metaphysische Voraussetzung, ohne die der Fort- schrittsbegrifF nicht bestehen kann. — Neben dieses Problem der allgemeinen Geschichte, das durch ihren terminus ad quem bestimmt wird , stelle ich nun endlich ein anderes, das um ihren terminus a quo zen- triert und das nicht weniger zeigt, wie die Tatsachen zu ihrem konstruktiven historischen Sinn erst durch die Formungskraft von Voraussetzungen uber-tatsachlicher Art I — 152 — kommen. Ich meine den sogenannten historischen Materialis- mus, dem gemafs das wirtscliaftliche Leben, der Bau uiid die Vorgange des Gruppenlebens , die auf die Produktion und die Verteilung der Unterhaltsmittel gerichtet sind, die Gesamtheit des geschichtlichen Lebens nach sich bestimmen : die innere wie die aufsere Politik, die Religion wie die Kunst, das Recht wie die Technik. Es steht hier durehaus nicht in Frage, in welchem Mafse das Prinzip sich an den Tatsachen der Geschichte hat plausibel durchfuhren lassen, inwieweit eine zeitlich-sachliche Anordnung der Ereignisse und Zustande moglich ist , die ihre kausale Reduktion auf die Produktionsverhaltnisse gestatten. Es handelt sich viel- mehr ausschliefslich urn die erkenntnistheoretische Struktur der Lehre, urn die Voraussetzungen , die aus den ver- schiedenen Schichten der Erkenntnismittel zu ihr zusammen- wirken. Was die Theorie zunachst zu bieten scheint, ist eine einheitlich - psychologische Deutung des historischen Ge- schehens. Wenn auch Marx ausdrucklich betont, dafs der Hunger fur sich noch keine Geschichte macht, so wurden doch die Produktions - und Austauschverhaltnisse der materiellen Guter nicht die Kraft, sie zu machen, besitzen, wenn der Hunger nicht weh tate und dadurch als die treibende Kraft dahinter stunde. Die Bezeichnung als Materialismus ist deshalb irrefuhrend. Dafs die Theorie mit dem metaphysischen Materialismus nichts zu tun hat, sondern mit jeder monistischen oder dualistischen Meinung uber das Wesen der psychischen Vorgange vereinbar ist, liegt auf der Hand. Deshalb konnte Materialismus hier nur bedeuten, dafs die Geschichte in letzter Instanz von unbeseelten Energien abhangt. Dies aber widerspricht gerade dem eigenen Inhalt der Theorie, die die Geschichte im eminenten Sinne psychologisch motiviert. Gewifs sind die Variierungen des Geschichtsinhaltes von Faktoren aufser- halb des Hungers abhangig, da dieser, als der immer und Uberall gleiche, jene nicht erklaren konnte; aber er ist gleichsam der Dampf, der die Maschinen treibt, wie mannig- faltig auch ihre Konstruktionen seien. Es ist die Grofse der Lehre, dafs sie hinter den Gegensatzen und Wandlungen der Geschichte die Triebfeder sichtbar machen will, die t — 153 — durch ihre ^lementare Einfachheit sich dazu qualifiziert, die Einheit in dem ganzen unermefslichen Getriebe des histo- rischen Lebens vorzustellen. Es ist nichts anderes als eine psychologische Hypothese, wie sie im ersten Kapitel be- handelt worden ist: hinter den aufseren Bewegungen der Menschen stehen seelische Vorgange, die im letzten Grunde auf das Interesse an der „ Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens" zuriickgehen. Der hypothetische Charakter der Theorie verbirgt sich nur leicht dadurch, dafs der seelische Irapuls, auf den sie das Sich-Ereignen in der Menschenwelt zuruckleitet, an sich von ganz unbezweifel- barer Tatsachlichkeit ist, und diesen Charakter auch dem Auf bau, der sich auf diesen Impuls griindet, zu verleihen scheint. Das ist der erste von den mancherlei Punkten, derent- wegen der historische Materialismus fur das Grundproblem dieser Blatter, die Uberwindung des historischen Realismus, von besonderer Bedeutung ist. Gerade er behauptet, die unmittelbarste Reproduktion der Wirklichkeit zu sein, und gerade an ihm lafst sich schrittweise die Formung des blofs Gegebenen nach den theoretischen und iibertheoretischen Anspriichen und Voraussetzungen der autonomen Geistigkeit erweisen. Diese Tauschung iiber die erkenntnistheoretische Bedeutung der Methode verringert iibrigens den grofsen Wert nicht, den diese durch die Aufdeckung neuer Kausal- beziehungen fiir die Praxis der Geschichtsforschung besitzt. Neben jener prinzipiellen Tatsache: dafs der historische Materialismus statt der vorgeblichen Sicherheit eines physio- logischen Faktums nur den Hypothesenwert psychologischer Zuriickleitung besitzt — wodurch seine Bedeutung nicht kleiner, sondern grofser wird — , steht die weitere der Auswahl, die er aus den moglichen letzten Motivierungen der Geschichte getroffen hat. Der tatsachliche Anblick des Lebens bietet eine Wirrnis von Interessenreihen, die durch das Bewufstsein, durch die Machtverhaltnisse , durch die aufsere ErscheinuDg hin verlaufen wie die Faden in einem Gewebe: jeder ist zwar in sich kontinuierlich, aber nur begrenzte Abschnitte seiner treten an die Oberflache, sein iibriger Verlauf findet unterhalb der anderen, in gleicher Abwechslung an die Oberflache kommenden Faden statt. — 154 — Hier ist alles in Wirklichkeit untrennbar verflochten : Wirt- schaft und Religion, Staatsverfassung und individuelles Leben, Kunst und Recht, Wissenschaft und Eheformen — und damit entsteht, was wir Geschiehte nennen. Nur durch die Kon- tinuitat der Fiiden, von denen jeder, durch die anderen ge- tragen, abwechselnd an verschiedenen Stellen von Raum, Zeit und Bewufstsein das Interesse beherrscht, ist die Situation moglich: dafs es nur Spezialgeschichten gibt, wie ich oben betonte, und dafs liber diesen dennoch als „Idee" die „Gesehichte uberhaupt" steht, die raum-zeitliche Ver- webung all dieser Reihen zu einer Einheit, die wir unmittel- bar nicht ergreifen konnen, deren Vorstellung aber das Aus- einanderfallen des Geschichtsbildes in unzusammenhangende Splitter hindert. Nun ist es das Verdienst des historisclien Materialismus, diesem apriorisch-ideellen Zusammenhang eine neue partielle Realisierung und anschaulichen Erweis zu- gefugt zu haben: er hat plausibel gemacht, dafs die Ent- wicklungen der Wirtschaft und die der idealen Werte, die abseits von einander zu verlaufen schienen, mindestens an vielen Punkten miteinander verflochten sind. Denken wir uns nun diese Verflechtung den Tatsachen wie den Gesetzen nach durch den ganzen Verlauf hindurch aufgedeckt, so folgt freilich, dafs man an der Entwicklung der Wirtschaft die der gesamten historischen Inhalte abrollen konnte. Ver- moge der Gesetze der Zusammenhange liefsen sich alle Zu- stande und Ereignisse als Funktionen des wirtschaftlichen Geschehens erweisen, und dieses als das Symbol der Ge- schiehte uberhaupt. So bedeutsam nun auch schon die Annaherung an diese Erkenntnismoglichkeit ist, so bringt ihre Voraussetzung mit sich, dafs die RoUe, die Gesamtheit der Geschiehte aus sich entwickeln zu lassen, jeder einzelnen Reihe in dieser ganz ebenso zukommt, wie der wirtschaft- lichen. Die Geschiehte der Verfassungsformen oder die der Verkehrssitten , der intellektuellen Bildung oder des Straf- rechts besitzt mit jeder anderen so ununterbrochene, wenn auch vielfach vermittelte und wechselnd distanzierte Ver- bindungen, dafs sie nicht weniger als Erkenntnisgrund der gesamten Historik dienen konnten. Nun ist es freilich die Behauptung des historischen Materialismus, in den okono- mischen Geschehnissen nicht nur den Erkenntnisgrund, mmH^^wm^m^m ' — 155 — sondern den Realgrund, die bewegende Ursache aller iibrigen Erscheinungen gewonnen zu haben. Allein angesichts der ins Unendliche gehenden Alternieruiigen zwischen den ver- schiedenen Ereigniskategorieu diirfte dies ein voreiliges dogmatisches Abschneiden der Wirklichkeitsreihe sein. Wir horen z. B. : die Grofsindustrie kann wegen der BeschafFung ihrer Materialien und des Absatzes ihrer Produkte keine Vielheit kleiner Staaten brauchen, und sie habe deshalb die grofsen Einheitsstaaten der letzten Zeit, Deutschland und Italien, geschaffen. Angenommen, diese Kausalitat trafe zu — wie steht es mit Frankreich und England, deren Staatseinheit doch nicht durch die Grofsindustrie be- wirkt sein kann? Vielleicht ist auch sie seinerzeit aus wirtschaftlichen Ursachen hervorgegangcn ; allein, nachdem sie einmal da war, hat sie ihrerseits dort das Entstehen der Grofsindustrie aus denselben Zusammenhangen heraus begiinstigt, aus denen andernorts die umgekehrte Kausalitat zu gelten scheint, und ebenso hat auch in dem letzteren Falle der einmal geschafFene Grofsstaat unzahlige Grofsindustrien erst hervorgerufen. Da nun derartige Wechselwirkungen sich in einem endlosen und fiir unser Erkennen anfangs- losen Prozefs entwickeln, so ist es willkiirlich, an welchem Gliede wir sie mit der Erklarung abschneiden wollen, an diesem die letzte Ursache aller spateren Erscheinungen der Reihe zu besitzen — denn j e d e s Glied, durch welches die Reihe passiert, ist naturlich die Bedingung der folgenden. Ein anderes Beispiel aus der MarxistischenLiteratur. Calvins Gnadenwahl sei nichts als der Ausdruck der Tatsache, dafs in der Handelswelt der Konkurrenz Erfolg oder Bankerott nicht von der Tatigkeit und dem Geschick des Einzelnen abhangen, sondern von unbekannten Ubermachten, und das gelte gaLz besonders von jener Zeit okonomischer Um- walzung. Wenn dies mehr als ein Witz ist, so ist es jeden- falls umkehrbar: ein Gemeinwesen, in dem es aus rein religiosen Griinden zu fatalistischen Uberzeugungen ge- kommen ist, wird in alien Lebensbeziehungen , also auch in okonomischen, zum laisser aller neigeu, da man von der Nutzlosigkeit aller prinzipiellen Vorsorge, aller menschlichen Teleologie und Regulierung durchdrungen ist. Solan ge man also an dem Bilde der Geschiehte als — 156 — einer Verflechtung qualitativ verschiedenartiger Geschehens- reihen festhalt, gewinnt der historische Materialismus aller- dings eine sonst nicht versuchte Organisierung des Gesamt- materials, eine aufserordentlich vereinfachende Abstimmung auf einen Grundton. Sein Glaube aber, damit eine natura- listische Nachzeichnung der Wirklichkeit zu geben, ist ein methodischer Irrtum ersten Ranges. Er verwechselt nicht nur die Stilisierung des von den Erkenntnisinteressen aus geformten Bildes des Geschehens mit der Unraittelbarkeit seines naturlichen Verlaufes; sondern aufserdem auch noch ein Prinzip, das seine Bedeutung als heuristisches , allent- halben erst gleichsam probeweise anzuwendendes, besitzt, mit einem konstitutiven , das von vornherein feststeht und die Tatsachen von sich aus entwickelt. Dafs namlich das wirtschaftliche Motiv das Bewufstsein der Menschen dureh- gangig, auch nicht-wirtschaftlichen Inhalten gegenuber, be- herrsche und diese bewufst erzeuge, behauptet niem'and; was im Unbewufsten vorgeht und wie sich dort die Kausali- taten kniipfen, weifs niemand; so bleibt als Sinn der ge- schichts-materialistischen Auffassung nur ubrig: die Ereig- nisse verlaufen so, als ob jenes Motiv die Menschen regiere. Aber die Verknupfungen zwischen den aufserlichsten und den innerlichsten Geschichtsinhalten , auf die gerade der Materialismus so energisch hingewiesen hat, zusammen mit der Alternierung, in der bald dieser, bald jener das Bewufst- sein beherrscht, gewahren die Moglichkeit, als heuristisches Prinzip zu f unktionieren, auch alien moglichen anderen Inter- essen. Dieses grofse Verdienst des Materialismus, die gegen- seitige Fremdheit oder Gegnerschaft, die unsere Interessen- reihen ihrem inneren Sinn und Wert nach trennt, in der engen Verknupftheit ihrer geschichtlichen Realisierung und ihres Verlaufes gezeigt zu haben — gerade dies raubt seinem Grundmotiv die exzeptionelle Stellung und koordiniert es, als blofs heuristisches, das die Tatsachen anderer Kategorien aus sich zuberechnen gestattete, doch diesen anderen, von denen aus dieselbe Rechnung geschehen konnte. Die methodische Zweckmafsigkeit dieser Selbsttauschung liegt freihch darin, dafs nur durch die absolutistisch - radikale Anwendung eines Prinzips der Umfang seines Rechts und dessen Grenzen wirklich und mit Sicherheit festzustellen sind. — 157 — Die dogmatische Beeintrachtigung dieses Vorteils scheidet erst aus, sobald derartige Prinzipien in heuristische ver- wandelt sind; nur dafs freilich der Ersatz ihrer natura- listischen Verwertung durch das vorsichtigere, nur den Weg weisende: Als ob — die Formung des Stoffes durch die Erkenntnisforderungen ofFenbart und die realistische Kopierung der Dinge, an dem Geiste vorbei, durch den sie Wissenschaft werden — aufs nachdrUcklichste dementiert. Mit jenem Bilde des geschichtlichen Lebens als eines aus vielen, an sich koordinierten Faden sich fortwahrend zusammenspinnenden Gewebes ist der Materialismus freilich nicht einverstanden. Fur ihn ist vielmehr die Wirtschaft die dauernde, in der Fundamentalebene der Geschichte selbstgenugsam sich entwickelnde Bedingung aller anderen Entwicklungen, die Unterstromung, die nicht mit anderen alterniert, sondern diese an jedem Punkte ihres Verlaufes tragt, gleichsam das Ding -an -sich zu den ubrigen Er- scheinungen der Geschichte. Nur unter der Bedingung dieser Struktur ist der historische Materialismus als kon- stitutives Prinzip moglich. AUein gerade sie fuhrt zu einer Schwierigkeit des historischen Bildes, die sich innerhalb der materialistischen Theorie als Metaphysik zeigt. Wenn es namlich richtig ist, dafs die Entwicklungen von Sitte und Recht, Religion und Literatur, u. s. f. der Kurve der wirtschaftlichen Entwicklung folgen , ohne diese selbst im wesentlichen zu beeinflussen — so sehe ich nicht recht, wodurch denn die Wandlungen des Wirtschaftslebens selbst zustandekommen. Die Erfindung der Schufswaffen, die Entdeckung Amerikas, die geistige Produktivitat am Ab- schlufs des Mittelalters sollen nicht ihrerseits die Ver- anlassung zum Ubergang der feudalistischen und Natural wirtschaft in die neuzeitlichen Wirtschaftsformen gegeben haben, sondern umgekehrt batten die letzteren erst von sich aus jene geistigen, technischen, territorialen Expansionen gefordert und bewirkt. AUein warum liefsen sich die Menschen nicht in alle Ewigkeit an Natural wirtschaft und Vasallentum gentigen? Jede Produktionsform soil ur- spriinglich fur ihre Zeit absolut angemessen gewesen sein; da nun aber „ihre Zeit" ausschliefslich von jener selbst bestimmt wird, so bleibt unklar, woraufhin sich aus der — 158 — Angemessenheit der spatere Widerspruch — zwischen Produktionskraften und -formen — entwickele. Indem jene anderweitigen Tatsachen zu der Anderung der Pro- duktionsform nicht mitgewirkt haben sollen, muls also jedes Stadium der Wirtschaft wie aus sich selbst und unbefruchtet die Krafte enthalten, die es iiber sich hinaustreiben — eine Parthenogenesis der wirtschaftlichen Zustande. Die reine Immanenz dieser Entwicklung wird mit solchen Ausdriicken bezeichnet: die Produktionsformen der Epoche hatten „sich uberlebt", neue Produktionskrafte hatten „8ich entwickelt", neue Gesellschaftsformen seien „im Werden". AUein dies alles sind leere Worte , nicht viel besser , als wenn man „die Macht der Zeit" fUr die Verlinderungen in ihr ver- antwortlich macht. Es ist fast, als ware jeder Wirtschafts- epoche von vornherein ein Mafs von Lebenskraft verliehen, das sich allmahlich von selbst erschopft. W o h e r aber der Wirtschaft dieses Versiegen auf der einen , die wachsenden Spannungen und Neugeburten auf der andern Seite kommen, wenn die Wechselwirkung aller historischen Faktoren ausgeschlossen sein soil — das scheint nur durch eine ge- heime Metaphysik erklarlich, in der die „Selb8tbewegung der Idee" weiterlebt. Worauf es hier ankommt, ist nicht eine unfruchtbare Kritik, sondern der Ertrag, den diese „realistische" Geschichtstheorie fUr die Uberwindung des Realismus bringen kann: vielleicht zeigt sie durch die prinzipielle Konsequenz, die sie auszeichnet, nur besonders deutlich die Metaphysik, die auch jede andere durchfliefst. Jene gegen- seitige Einwirkung aller historischen Faktoren namlich ist uns zu durchschauen versagt. Wlihrend sie allein die wirkliche Geschichtseinheit ausmacht, kommt jedes uns mogliche, einheitliche Bild des Gesamtgeschehens nur durch konstruierende Einseitigkeit zustande. Wir konnen wohl einzelne Entwicklungsreihen von einer grofsen geschicht- lichen Epoche in die andere hinein verfolgen; allein der Gesamtcharakter der einen wie der andern wird, wenn man genau zusieht, dabei eigentlich immer schon vorausgesetzt. Wie ich friiher schon hervorhob, entwickelt ein Stadium einer Reihe nie absolut aus sich selbst das nachste, sondern dies gelingt nur seinem Zusammenschlag mit den von alien ;/ — 159 — anderen Reihen gleichzeitig ausgehenden Wirkungen. Werden dennoch, wie es fur unsere Erkenntnisart vollig unvermeid- lich ist, einzelne Reihen konstruiert, als waren sie selbst- genugsame, so munden wir ebenso unvermeidlich an jenem unbefruchteten Weiterwachsen der Reihe aus sich allein, wir ersetzen unzahlige Male die Veranlassungen zur Pro- duktion eines neuen Stadiums, die dem fruheren aus der Gesamtheit der Weltlage kommt, durch blofse innere An- triebe, wie durch qualitates occultae. Wie man den Organismen gegeniiber zu mehr oder weniger mystischen „Entwicklungstrieben" gegriffen hat, so treten in historischen Darlegungen, mindestens die wahrhaft erklarenden Wechsel- wirkungen der Elemente erganzend, Wandlungen und Ent- wicklungen wie ein selbstverstandliches Wachstum auf, als ob ein gewisser Rhythmus von Entfaltung und Niedergang, von Selbstbehauptung und Abirrung von vornherein in der in sich beschlossenen Einheit der Subjekte angelegt ware. Diese Metaphysik ist im einzelnen Fall schwer festzustellen, weil sie in sehr unregelmafsigen und rudimentaren Mafsen und als naive Gewohnheit des historischen Denkens auf- tritt; der historische Materialismus aber hat sie sozusagen rein herausgelost, indem er der einen Geschehensreihe eine selbstandige Entwicklung gab, den andern gegenuber beeinflussend aber nicht beeinflufst, und also darauf an- gewiesen, ihre einzelnen historischen Formungen rein aus sich selbst, aus einer von vornherein gegebenen Entwicklungs- direktive herauswachsen zu lassen. Nun aber tritt innerhalb dieser Lehre ein Gesichts- punkt auf, der dem hier vertretenen methodischen Prinzip verwandt ist. Alles, was bisher kritisch eingewendet wurde, gait der Selbsttauschung : dafs man die Geschichte realistisch nachzuzeichnen glaubte, wo unsere Erkenntnis- kategorien ein nur durch ihre Forderungen stilisiertes Gebilde schufen. Von einem Vertreter der Theorie scheint dies gefuhlt zu sein; denn er betont, sie sei dadurch ge- rechtfertigt, dafs die geschichtliche Entwicklung etwas anderes sei, als das Ganze des mensch- lichen Lebens. Keineswegs gehore alles, was wir er- leben, in die Geschichte hinein, denn diese enthalte nur, was sich entwickelt, wiihrend unser Leben aufserdem viele \ - 160 — konstante Faktoren enthalte, wie Zeugen, Gebaren, Ver- dauen usw., die keine „Geschichte" batten. Damit wird ersichtlich eine bedeutungsvolle begrifFh'che Linie durch das Dasein gezogen. In jedem Augenblick bilden seine kon- stanten und seine variabeln Bestandteile eine real untrenn- bare Einheit. An den Dauerelementen des Korperhaften und des Logischen, der WoUungen und Gefuhle, der Sinnes- eindrticke und interindividuellen Verhaltnisse, die unserer Kenntnis nach keine „Geschicbte" haben, findet das Variable seine Substanz oder seine Akzidenzen und wurde ohne diese Uberhaupt keinen ausdenkbaren Zustand ergeben; beide bauen in volliger Koordination den einzelnen Moment auf, er niinmt das Element, das vorher und nachher anders ist, ohne Rueksicht darauf als eindeutig festes bin, er erlebt andrerseits das inhaltlich immer Wiederkehrende oft genug als ein Uberraschendes und in seiner Wirkung und Kom- bination Unwiederholtes. Indem der Materialismus nun verkundet: Geschichte babe es nur mit den variabeln Elementen des Daseins zu tun, erkennt er sie als eine Auslese und — unvermeidlich — neue Synthese der Wirk- lichkeitselemente an. Denn wenn die Konstanten aus- scheiden, die sich mit jenen zu der absolut realen, gelebten Wirklichkeit durchdringen, so mufs das Ubrigbleibende in neue und eigne Zusammenhange gebracht werden; damit aber wird es dem Kunstwerk vergleichlich, das nur die Ein- drucke eines Sinnes erfafst und diese deshalb durch nur ihm eigne Zusammenhange zu einem Bilde forraen kann, dessen reales Gegenbild seine Einheit durch sehr viele andere Beziehungskrafte zustande bringt. Diese Aus- sonderung der Geschichte aus der Gesamtheit des Ge- schehenden und ihr Aufbau aus den variabeln Elementen des letzteren — ist die vollstandigste Absage an den naiven Realismus, die Souveranitatserklarung der Kateg(M:ie liber den StofF. Und dies ist noch weiterer Vertiefung f^big, wenn wir fernerhin horen: „Die materialistische Geschichts-x auffassung erhebt nicht den Anspruch darauf, die Tatsache zu erklaren und auf okonomische Bedingungen ohne Rest zuriickzufuhren, dafs Casar keine Kinder hatte und den Oktavianus adoptierte, dafs Antonius sich in Kleopatra ver- liebte und Lepidus ein Schwachling war. Wohl aber glaubt \4 ;.5t- i I i'i' II - IGl — sie den Zusammenbruch der romischen Republik und das Aufkommen des Casarismus erklaren zu konnen." Diese letzteren historischen Inhalte sind doch wohl zusammen- fassende BegrifFe, zu denen die entsprechenden Wirklich- keiten aus lauter einzelnen, individuell bestimmten Tat- sachen bestehen — die der erste Teil des Satzes als historisch unerklarbar anerkennt. So erscheinen die Einzel- ereignisse als solche sozusagen nicht als Geschichte; sie werden es erst, indem sie unter Entwicklungsbegriife ge- bracht werden, die die „Variabilitat" der Reihe kenntlich machen — wie die raumliche Welt dadurch zustande kommt, dafs die an sich raumlosen Sinneseindriicke eine Synthese unter der Auffassungsform der Raumlichkeit er- fahren. So gewinnen die singularen Tatsachen den Sinn, der sie als Geschichte bezeichnen lafst. unter der besonderen Kategorie der Variabilitat, die keiner derselben fUr sich allein einwohnt, sondern eine vom Auffassenden herbei- gebrachte Vergleichung, Beziehung, Entwicklungseinheit ist. Aber hier wie sonst setzt die Lehre die Bedeutung ihrer prinzipiellen Methodik durch die Einseitigkeit des Zieles herab, zu dem sie diese verengt. Jenes variable Element, das allein Geschichte bildet, sei allein die Wirt- schaft; alle iibrigen seien an sich konstant und erlitten Anderungen nur infolge der Einwirkung jener. An dieser Behauptung tritt die Willkiirlichkeit, mit der die wirtschaft- liche Reihe alien anderen, ihr koordinierten historischen gegeniiber die Fiihrerschaft usurpiert, in das hellste Licht. Sie scheint mir deshalb nicht so wohl einer sachlichen, als einer psychologischen Diskussion zu bedurfen, d. h. zu ihrer Erklarung nur auf das nicht-theoretische Motiv hin- zuweisen, das die geschichtsmaterialistische Theorie uber- haupt tragt. Es ist bei den bisherigen Vertretern des historischen Materialismus doch die praktische sozialistische Tendenz, derentwegen sie die psychologischen, meta- physischen, methodischen Formen ihrer Geschichts- betrachtung mit der Wirtschaft als Inhalt fullen. Und zwar zunachst aus dem friiher beruhrten Grunde: dafs fUr eine soziale Bestrebung, die um die grofse Masse als solche zentriert, das wirtschaftliche Interesse das ausschlag- gebende sein mufs, weil kein anderes sich mit gleicher Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 11 - 162 — Sicherheit in jedem Elemente derselben findet. Dies ist einerseits der Grund, aus dem die wirtschaftliche Reihe dem Materialismus als die eigentlich variable erscheint. Denn an der Konstanz, die der wirtschaftliche Faktor als allgemeiner in der Menschenwelt besitzt, mussen sich die Wandlungen seiner einzelnen Ausgestaltungen mit der aufserordentlichsten Scharfe abheben. Vielleicht auf keinem zweiten Interessengebiet zeigt sich eine so starke Spannung zwischen der begrifflichen Gleichmafsigkeit seines typischen Vorkommens und der Mannigfaltigkeit seiner Formen und Inhalte i). Andrerseits ist begreif lich, dafs die Orientierung des Geschichtsbildes nach Willens- und Gefuhlstendenzen dann am intensivsten und sozusagen mit dem besten Ge- wissen gcschehen wird, wenn die letzteren sich ihrem Wesen und Inhalt nach auf die Interessen der grofsen Anzahl beziehen. Ein individueller bestimmtes Interesse erscheint eher an unterschiedene, raumlich-zeitliche Umstande ge- bunden; wo es aber seine Bestimmtheit und Bedeutung dadurch erhalt, dafs es der Treffpunkt fur die Interessen der Masse uberhaupt ist — da wird es sich leicht jenseits aller Zeitlichkeit und Besonderheit stellen, in eine Hohe, in der die Deutung der Vergangenheit und die Regulierung der Zukunft nur noch als zwei Formungen oder Aspekte derselben Wertsubstanz erscheinen. Die Individuen mogen noch so verschieden sein — irgend ein wirtschaftliches Interesse ist in jedem zu finden. Ein politisch-ethisches Bestreben also, das die grofse Masse als solche zum Inhalt hat, wird, wo es nicht etwa religios ist, sich auf die materiellen Werte richten. Das wirtschaftliche Interesse ist der Vergangenheit und der Zukunft gemeinsam; deshalb wird, wo eine praktisch-politische Tendenz der letzteren und ihrer wirtschaftlichen Gestaltung gilt, um solcher Ein- heitwillen das gleiche Interesse auch die Theorie beherrschen, 1) Hochstens konnte hier noch das Gebiot der Beziehungen zwischen den Geschlechtern eine Analogic bieten, auf dem gleich- falls eine unubersehbare Mannigfaltigkeit psychologischer Kombi- nationen sich auf einer durchgehenden generellen Gleichheit der Grundlage erhebt. AUein die geschichtlich-greifbaren Formen, zu denen jene Moglichkeiten von Verhaltnissen kristallisiert sind, sind an Zahl mit denen des wirtschaftlichen Lebens nicht zu vergleichen. — 163 — die der Vergangenheit gilt, wird fur eine demokratisch- sozialistische Gesinnung der wirtschaftliche Gesichtswinkel der allein Geschichte-bildende sein. Die generelle Durch- gangigkeit und Unaufhebbarkeit des materiellen Interesses, bei aller Individualisiertheit der Individuen, ist der Punkt, in dem das um „die Vielen" zentrierende praktische Interesse sich mit dem okonomischen Auf bau der Geschichte gerade als dem einer Einheit und Gesamtheit begegnet. Dieser Zusammenhang ist noch um eine Stufe zu ver- tiefen. Die aufsere Absicht jenes Vielheits- Interesses ist eine Egalisierung. So sehr der moderne Sozialismus die mechanische Gleichmacherei ablehnt, so mufs doch das Aus- schalten der unverdienten Vorteileund Zuriicksetzungen durch Geburt, Konjunkturen , Kapitalansammlung , Verschieden- wertung des gleichen Arbeitsquantums usw. jedenfalls zur erheblichsten Nivellierung der Lagen gegenuber dem jetzigen Zustand fiihren. Diese Nivellierung bleibt, bei alien Vor- behalten, ein Moment ersten Ranges innerhalb des Sozialismus, schon als Agitationsmittel und als Ausdruck einer der fundamentals ten Wertempfindungen der Menschen : immer wird fur gewisse Naturen die Gleichheit ein sich selbst rechtfertigendes Ideal, ein absolutes Sollen darstellen — ebenso wie andern die Distanzierung und Abstufung ein letzter Werl ist, beides weder zu beweisen noch zu wider- legen, weil das eine oder das andere schlechthin zu wollen eine Seinsqualitat der Personlichkeit ist. Und nun ist das Entscheidende, dafs ein Nivellement verniinftigerweise uber- haupt nur auf dem okonomischen Gebiete angestrebt werden kann. Wo es sonst noch in Frage kame: als religiose und als politische Gleichheit, ist die eine nicht durch In- stitutionen zu erreichen, die andere wegen der Notwendig- keit der Fuhrerschaft, selbst im sozialisiertesten Zustand nicht herzustellen. Andere Gebiete: das ethische oder das asthetische, die Kraft und Vollkommenheit der Individuen, die von rein personlichen Chancen abhangigen Schicksale, die Intelligenz und das Temperament — alle diese Gebiete wurden des Versuches, die personlichen Differenziertheiten zu nivellieren, von vornherein spotten. Nur innerhalb der wirtschaftlichen Produktion und Konsumtion mag dies denkbar sein : fur erstere durch die Vergesellschaftung 11* * — - — '■■ — — 164 — der Produktionsmittel und die Wertung aller Produkte ausschliefslich nach dem Quantum der darauf verwandten Arbeitszeit, fur letztere durch den Beitritt der kommu- nistischen Tendenz zu diesen. So sehr also der Sozialismus seinera tiefsten Sinne nach mehr ist als ein okonomisehes Problem, vielmehr eines, das den ganzen Menschen und nicht nur einen sachlich-einzelnen Inhalt des Lebens angeht — so mufs sich sein Nivellierungsmoment doch im Wesent- liehen und Praktischen auf die materielle Lage beschranken. Aus diesem Grunde neigt der praktische Sozialismus zu einer materialistisch-okonomisclien Lebensanschauung. Fur ihn ist der Sinn der Geschichte, sich sozialistischen Zu- standen zuzuentwickeln, und darum ist ihm ihre Substanz, dasjenige, was eigentlich Geschichte am Leben ist — nur der Interessenkomplex , an dem die soziale Nivellierung allein eine Chance und Ausdenkbarkeit findet: der wirt- schaftliche. Damit offenbart sich, wie hoch der historische Materialismus uber allem rohen und blofs sensualistischen Sinn des MaterialismusbegrifFes steht. Er ist vielmehr die logische Ausgestaltung einer durchaus auf einen letzten und hochsten Sinn gehenden Deutung der Geschichte; und so radikal ist hier alles auf diesen Sinn gestellt, dafs er, durch die Vermittlung des mit ihm durch die tatsachlichen Ver- haltnisse solidarisch gewordenen Okonomismus, allem ent- scheidet, was uberhaupt als „ Geschichte" zu gelten hat. Ebenso radikal ist freilich, auch von hier aus gesehen, die Selbsttauschung, in der sich der historische Materialismus fur die realistische, von jedem nicht-objektiven Moment schlechthin freie Geschichtsauffassung halt. Wenn man hort: die materialistische Geschichtsbetrachtung fuhre not- wendig auf den Sozialismus, als auf die sozusagen durch sie ausrechenbare Zukunft der Gesellschaft — so ist dies nur die Folge oder umgekehrte Spiegelung der Tatsache, dafs der praktische Wille zum Sozialismus auf diese Geschichtsbetrachtung fuhren mufs. Es ist die Souveranitat eines Wertgedankens, die auf Grund des dargelegten Zusammenhanges entscheidet, was uberhaupt Geschichte heifsen soil; woraufhin denn begreiflich die Geschichte nur auf die Realisierung eben jenes Wertes gehen kann. — In einem gewissen Sinn freilich ist der historische — KJ o Materialismus ganz realistischen Wesens: indem er sich namlich als den absoluten Gegensatz zu aller „ideologischen" Geschichtsbetrachtung behauptet — zu derjenigen, die be- stimmte „Ideen" zu den verursachenden Kraften des Ge- schehens macht, die Freiheit oder das Gluck der Menschen, die Veredlung der Individuen oder der Rasse, die religiosen Ideale oder die Rationalisierung des Lebens, den dialektischen Prozefs oder die sittliche Weltordnung. Fur diesen Typus der Geschichtsmetaphysik rollen die geschichtlichen Er- eignisse ab wie die Bilder auf der rotierenden Walze des Kinematographen. Die aufsere Kausalitat ist nichts anderes als der Zusammenhang in der Szenenfolge jener Bilder, innerhalb dieser Folge scheint jedes Bild seinem Inhalte nach durch das vorhergehende in seinem Auf- treten bewirkt zu sein. Aber dieser Zusammenhang besteht nur an der Oberflache, nur flir die Erscheinung, das eigentlich Treibende ist die unsichtbare Walze, auf die das Erscheinen jedes Bildes fur sich zurlickgeht — eine Idee; sie lenkt die Wirklichkeit an anderen Ziigeln als an denen der Kausalitat, die sozusagen ebenso im absoluten Sinne kraftlos ist, wie jedes jener erscheinenden Bilder unfahig, das nachste von sich aus wirklich zu er- zeugen; sie ist das unbedingt Wirksame, fiir das alle eventuellen Eigenkrafte der Einzelheiten blofse technische Mittel oder Dokumentierungsarten waren. Von diesem Ver- haltnis ist nun, nach dem historischen Materialismus, genau das Gegenteil richtig. Hielten die Tatsachen wirklich einen Gang inne, der einer jener Ideen entspricht, so ware dies eben jene rein aufsere Zusammenordnung von Szenen, deren ideell durchgehender Inhalt in keiner Weise die Kraft be- deutet, die jede einzelne und die Stelle ihres Hervortretens bestimmt. Jene Illusion, die den Zusammenhang nach dem begrifflichen Sinn mit den bewegenden Kraften verwechselt, die Idee mit der Kausalitat, will der historische Materialismus durch die EnthuUung der unmittelbar wirksamen Ursachen ersetzen; die Ideologic vertauscht die Wirkung mit der Ursache und halt fur die letztere, was nur die aufserste Erscheinung des wahren Geschehens sein kann: wenn z. B. die Geschichte wirklich die wachsende Realisierung der Freiheit ware, so ware das nur der jeweilige Erfolg, >, ' — 1(3(3 — in dem die tatsachlichen Vorgange gipfeln, oder der BegrifF, der diesen zusammentafst, wahrend die Vorgange selbst die Wirkungen viel greifbarerer Krafte sind. Wenn dies nun wirklich manchen metaphysisehen Irrungen entgegentrittj und zwar besonders jenen verderb- lichen, die die Darstellung von Tatsachenreihen als etwas scheinbar selbst exaktes durchziehen — so hat auch hier wieder das bedeiitungsvolle Prinzip eine mifsverstandliche Ausfiillung gefunden. Dadurch, dafs der Idee als Entitat, als metaphysischer Energie die Wirksamkeit auf die Ge- schichte abgesprochen ist, ist noch keineswegs ausgeschlossen, dafs sie dieselbe als psyehologisehes Ereignis besafse, und folgt keineswegs, dafs die konkret wirksamen Bewegungs- krafte materialistisch-okonomische sein miissen. Das Reich Gottes mag als reales Endziel der Geschichte ein Phantasma sein ; als religiose Idee im Bewufstsein von Mensehen kann es darum doeh aufserst reale Wirkungen geiibt haben. Dem Gegensatz: metaphysische Idee als Triebfeder der Geschichte — singular- naturliche Ursachen ihres singulSr- naturlichen Verlaufes, schiebt der historische Materialismus den anderen unter : ideale Interessen als treibende Krafte — materielle Interessen als treibende Krafte der Geschichte. Die Beschrankung des entscheidenden und allein wirksamen historischen Geschehens auf die Wirtschaft entspringt also einer quaternio terminorum, dem Fehlschlufs, aus der prin- zipiellen Beschrankung des historischen Verstandnisses auf empirisch konkrete Verursachungen sogleich die Beschran- kung dieser letzteren auf eine bestiramte einzelne Interessen- provinz zu machen — nur weil das, was im ersten Fall ausgeschlossen wird, mit dem, was im zweiten ausgeschlossen wird, den Namen „Idee" teilt, der indes dort metaphysisch- abstrakte, hier aber psychologisch-konkrete Bedeutung hat. Bezeichnet dies das Recht und die Rechtsgrenzen des historischen Materialismus in inhaltlicher Beziehung, so stellt sich in methodischer ein verwandtes Verhaltnis heraus. Der erkenntnistheoretische Idealismus, den diese Blatter vertreten, setzt sich gegen die Ideologic, wie sie der Materialismus prinzipiell und vor der Einengung auf das wirtschaftliche Motiv bekampft, in keinen geringeren Gegen- satz als dieser. Denn jene ist tatsachlich ein erkenntnis- - 167 — theoretischer Realismus, ihr ist Geschichte als Wissenschaft nicht eine besondere geistige Formung der Wirklichkeit nach den Gestaltungskategorien unseres Erkennens, sondern eine Nachzeichnung des Geschehens, wie es wirklich ist — nur dafs ihr dieses „Wirkliche" ein Metaphysisch-Geistiges ist. Die Ideologic, fiir die die Ideen, wie sie sich adaquat in unserem Denken spiegeln, die tatsachlichen Faktoren der Geschichte sind, ist ein Materialismus, der sich nur in dem, was er fiir den Inhalt der Geschichte halt, aber nicht in dem methodischen Prinzip von dem Bilde unterscheidet, das der historische Materialismus von sich selbst entwirft. In Wirklichkeit aber ist dieser gar nicht in dem Mafse naturalistisch, das er selbst vorgibt. Indem er die Geschichte entschieden von dem Gesamtgeschehen des Lebens trennt; indem er die Moglichkeit historischer Erklarung auf die unter hoherem BegrifFe zusammenfafsbaren Ereignis - komplexe beschrankt; indem er, von dem Wertgefiihl fur die wirtschaftlichen Interessen her, aus den vielfach ver- schlungenen Ereignisreihen die wirtschaftliche als die pri- maro, die anderen gleichsam aus sich entlassende bestimmt — vollzieht er jeneOrganisierung und Stilisierung des Daseins, deren dieses, gleichviel ob sie inhaltlich schon zureichend und widerspruchslos ist, bedarf, um aus einem Chaos durch- einanderwogender Elemente zu dem besonderen Gebilde der Geschichte zu werden. Er ist eine Ideologic des Erkennens, unbeschadet der Tatsache, ja, gerade auf sie gestutzt, dafs er die Ideologic des Geschehens zu beseitigen suchte. Er sucht den Sinn, den die Geschichte haben mufs, um unseren, auf einen Sinn des Daseins gerichteten Kategorien des Er- kennens adaquat zu sein *, aber mangels einer prastabilierten Harmonic kann sie ihn nur haben, indem jene Kategorien den vorhistorischen EreignisstofF selbst zur Geschichte formen. Dafs aber der historische Materialismus zum Inhalte dieses Sinnes der Geschichte das Materielle, in gewisser Bedeutung Unidealste gewahlt hat und noch dazu verkennt, dafs auch dieses nur als psychischer Wert die Geschichte motivieren kann — dies verhindert ihn, die Idee als Form der Ge- schichte anzuerkennen ; er ist geneigt, auch fur diese Form einen Realismus zu proklamieren, den sein eigenes Verfahren dementiert. — 1(38 — Im Uberblicken der hier vorgelegten Gedankenreihen liegt die Gefahr nahe, ilire zentrale Gesinnung fiir eine skeptische zu halten. Von vornherein wurde „Geschichte" auf das beschrankt, was unmittelbar iiberhaupt nicht zu konstatieren ist, auf die seelischen Vorgange. Statt dafs aber diese Wesensgleichheit zwischen Subjekt und Objekt der Historik zu ihrem realistischen Sich-Decken mit dem Erkenntnisinhalte fuhrte, zeigte sich, dafs das Erkennen durchaus keine mechanische Parallelitat mit dem Objekte bedeutet; vielraehr ist es ein mannigfach vermittelter Fro- ze fs , der sehr mannigfache Verhaltnisse zu seinem Gegen- stand besitzt — ganz gleichgultig , ob dieser Gegenstand selbst Geist ist, ja an dieser substantiellen Einheit mit ilim erst die funktionelle Autonomic des Erkennens und seiner Richtigkeit markierend. Und weiter sahen wir: die Typen, die BegrifFe, in die jede Historik das reale Geschehen bannen mufs, die Synthesen der Reihen zu hoheren Gesamt- erscheinungen -- alles dies baut ein Reich des Erkennens, dessen Sonderart dureh noch so genaue Kenntnis der Einzel- heiten in ihrer Realitat und Kausalitat nicht zu ersetzen ware. Die Geschichte riickt in diesen unzahligen Problemen von der unmittelbar gelebten oder gegebenen Wirklichkeit, die wir als die Wirklichkeit schlechthin zu bezeichnen pflegen, weit ab; aber dafs sie mit jenen diese nicht erreicht, ist nicht ein Versagen ihrer Kraft, ein Nicht- Konnen, son- dern ein Nicht- Wollen, eine urspriinglich andere Richtung, ein Bau aus demselben Material wie die in ihren Einzel- heiten zu ergreifende Wirklichkeit, aber nach anderen Dimensionen und in anderem Stil. Endlich erschien die ganze Organisation des Geschichtsbildes von Ideen und iiber- theoretischen Interessen abhangig ; den Sinn der Geschichte, ohne den wir uns nicht zu dem Entwerfen jenes Bildes ver- anlafst fuhlten , verleihen ihr jene Voraussetzungen , die sie von der „reinen Tatsache" qualitativ ebenso abscheiden, wie die Notwendigkeit der Auswahl aus dem Komplex sach- lich vollig koordinierter Ereignisse es quantitativ tut. Dies fiir eine Resignation zu erklaren, ware nicht sinniger, als wenn man die Kunst dariiber anklagen wollte, dafs sie die Wirklichkeit nicht erreichen konnte, wahrend in diesem Abstand gerade ihr ganzes Existenzrecht beruht; — 1^9 - freilich nicht in dem Negativen des Nicht-Erreichens , son- dern in dem positiven Aufbau, dessen Werte nach eigenen Mafsstaben, aber durchaus nicht nach der Nahe oder Feme jenes Abstandes gemessen werden. Nur wenn man von der Geschichte das fiir sie ganz Widerspruchsvolle fordert: zu beschreiben, „wie es wirklich gewesen ist" — ein Anspruch, der mit der Wahrheitsforderung durchaus nicht zu- sammenfallt, weil er zu einer mechanischen Kongruenz macht, was nur ein funktionelles Verb alt nis ist — kann die hier vertretene Auffassung als ein Skeptizismus er- scheinen, durch dasselbe Mifsverstandnis, das den Kantischen Idealismus so erscheinen liefs. Vom transszendentalen Realis- mus ausgehend, mufs man freilich im Skeptizismus munden, weil jener dem Erkennen eine Aufgabe oktroyiert, die losen zu wollen seinem Wesen widerspricht; sind aber die Gegen- stande des Erkennens von vornherein durch die Formen des Erkennens zustande gebracht, so ist von der Unerreich- barkeit zwischen Subjekt und Objekt, die den Skeptizismus begrundet, nicht mehr die Rede. Dafs die Geschichte ein Bau aus dem StofF des Gegebenen ist, der seine Form aus- schliefslich den Forderungen des Erkennens verdankt, kann zu der skeptischen Klage: wir konnten die voile Realitat und Ganzheit des geschichtlichen Daseins nicht ergreifen — nur so lange mifsbraucht werden, wie man die historische Wahrheit mit der erlebten Wirklichkeit verwechselt, und aus dieser das Ideal fiir jene gewinnen will , das doch nur aus ihr selber erwachsen kann. -♦<•►♦- 11** 1 \ V Piererache Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg. ^ ^ 3 *^ ^ COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES This book is due on the date indicated below, or at the expiration of a definite period after the date of borrowing, as provided by the library rules or by special arrangement with the Librarian in charge. OATKilORllOWCO DATE DUE DATE BORROWED DATE DUE "ii<-'k or- ^«« m^ ( HC vanim\:^M 1 W 5V 21195^ ( 1 I NOV 1 6 19'6 Fi ,B 1 5 ^yt>4 1 1 f 1 ': t I 1 C28(757)100M D901 Si47 LiBi^ART OF PHIi-OiiOPHY I D901 Si47 Siramel Die Proble^e der g^schichtsphii osophie "t-;;-- i^^cs za. A iLz-TJ.-;:^ ■. o u z FOR REFERENCE Do Not Take From This Room -^ I